Illustration von Jörg Thadeusz
Kolumne

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Nix wie rüber

Es hieß, die ostdeutschen Mädchen könnten wahnsinnig gut küssen. Also machte sich unser Kolumnist Jörg Thadeusz in den 80er Jahren auf den Weg über die innerdeutsche Grenze, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Zur Person
Jörg Thadeusz

Jörg Thadeusz ist Journalist und Moderator. Im rbb ist er regelmäßig mit „Thadeusz” und „Thadeusz und die Beobachter” auf Sendung.

Die Freiheit lag auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs. Damals, Mitte der 80er ­Jahre. Mein Bruder und ich wollten auf dem Gebiet des Warschauer Pakts ein Bündnis mit dem Bösen eingehen. Mindestens alles machen, was zu Hause verboten war. Unmittelbar vor dem Abendessen Süßigkeiten essen. Nachts nicht ins Bett gehen, sondern lange duschen. Im günstigsten Fall nicht allein. Denn ein Freund von uns hatte sich dort in Ungarn vielversprechend in ein wunderschönes Mädchen verliebt. Deutsch, gleichaltrig, mit sächsischem Akzent.

Immer wenn nicht Urlaubszeit war, gab es zwischen ihr und unserem Freund die unüberwindbare deutsch-deutsche Stachelnaht. Für ihn begann damals auf der DDR-Seite des Zauns das romantische Paradies. So gut, wie sie küsste, mussten sich dort drüben alle ständig zum Schmusen in den Armen liegen. Nach allem, was wir hörten, gab es dort auch keine Armut, keine Ungleichheit. Nur Liebe. Woher sollten wir es besser wissen?

Eigentlich müsste sich unser Freund heute noch schämen, dass er die Grenztruppen der DDR zu Komplizen seiner Ruchlosigkeit machte. Wären die nicht gewesen, hätte er schließlich mit Petra, Ulrike oder Dagmar in flagranti ertappt werden können.

Rübezahl mit Stempelkasten

Uneingeschränkte Freiheit ist immer auch eine unerreichbare Idealvorstellung. Das mussten mein Bruder und ich einsehen, als wir uns der österreichisch-ungarischen Grenze näherten.

Quelle
Cover des CHANCEN-Magazins zum Thema Grenzen

Der Artikel ist erschienen in CHANCEN Herbst/Winter 2014 „Grenzen”.

Zur Ausgabe

Ich müsste so übermütig sein wie damals, um beispielsweise in Leipzig eine moralische Grenze zu verletzen. Indem ich schon beim Einchecken im Hotel der Rezeptionistin entgegentute: „Ich bin hier, um zu überprüfen, ob ihr immer noch so wahnsinnig gut küsst.“

Auf KfW Stories veröffentlicht am: Freitag, 17. März 2017