Einwohner von Agalatowo
Wiedervereinigung

Wiedervereinigung

Neue alte Heimat

Nach der Wiedervereinigung zog Russland seine Truppen aus Deutschland ab, im Gegenzug finanzierte die Bundesrepublik moderne Wohnsiedlungen für die Rückkehrer. Was ist aus den Menschen geworden? Ein Ortsbesuch.

Video: Eine neue Heimat in der Wohnsiedlung Agalatowo (KfW Bankengruppe/Begisheva/Schuch).

Auf den 17. August hat sich Sergej Nikolajewitsch Aschpetkin wochenlang vorbereitet. Ist mit geradem Rücken und schwingenden Armen, die ihn sofort als Militär verraten, zu den Sitzungen des Stadtrats geeilt, die anlässlich des bevorstehenden Festes einberufen wurden. Hat überlegt, wie viele Veteranen sein ehemaliges Bataillon für die Militärparade noch stellen kann. Diskutiert, ob während des Konzerts auf dem Dorfplatz Hubschrauber Bonbons auf die Zuschauer abwerfen sollten. Als jemand während der vorigen Sitzung vorschlug, man könne einen Besuch in Parchim in Deutschland als Hauptpreis der Lotterie ausloben, schmunzelte er. Der Glückliche, sagte einer der Sitzungsteilnehmer, könne dann doch schauen, was aus der alten Siedlung geworden ist, und allen anderen berichten.

Sergej Nikolajewitsch Aschpetkin, 61, ist Rentner in Agalatowo, einem Dorf mit 5.155 Einwohnern im Nordwesten Russlands, 30 Kilometer von der Innenstadt Sankt Petersburgs entfernt. Es ist ein besonderes Dorf. Nicht allein, weil es dort keine Straßennamen, sondern nur Hausnummern gibt. Dieses Dorf hätte es ohne Parchim in Mecklenburg-Vorpommern nicht gegeben. Und nicht ohne die deutsche Wiedervereinigung und deren Konditionen, die Helmut Kohl und Michail Gorbatschow bei ihrem historischen Treffen im Nordkaukasus 1990 aushandelten. Agalatowo, dessen straßennamenlose Adressen jedem Taxifahrer in Sankt Petersburg Kopfschmerzen bereiten, ist Teil der Geschichte Europas.

Mehrfamilienhaus in Agalatowo

Ein Stück heile Welt: Die Bewohner der einstigen Offizierssiedlung kümmern sich liebevoll um ihre Vorgärten.

Rückkehr nach der deutschen Wiedervereinigung

Von 1973 bis 1992 war in Parchim das 172. selbstständige Kampfhubschrauberregiment stationiert, als Teil der GSSD, der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Gorbatschow und Kohl besiegelten nach der Wiedervereinigung deren Abzug: Eine halbe Million Soldaten und ihre Angehörigen sollten die Heimreise antreten. Damit verbunden war auch eine Zusage für ein Wohnbauprogramm im Wert von 8,3 Milliarden Mark, finanziert über die KfW. Bis 1994 sollten an 40 Standorten in Russland, Weißrussland und der Ukraine Offiziersstädte aus dem Boden gestampft werden, allein drei rund um Sankt Petersburg.

Am 13. November 1992, drei Jahre nach dem Fall der Mauer, wurde das Kampfhubschrauberregiment vom Parchimer Militärflughafen verabschiedet – auch Sergej Aschpetkin, der als stellvertretender Bataillonschef für flugplatztechnische Sicherstellung zuständig war. In einem der Hubschrauber nahmen die Russen eine junge Birke mit, ein Geschenk des CDU-Abgeordneten Helmut Lamp. Der neue Standort war Agalatowo, wo neuer Platz für 1.500 Menschen geschaffen werden musste. Neben den Wohnungen für die Offiziersfamilien standen eine Schule, zwei Kindergärten, eine Klinik, eine Offizierskantine und ein Einkaufszentrum auf dem Bauplan. „Agalatowo kannten wir nicht, aber die Nähe zu Sankt Petersburg machte den Standort sehr attraktiv“, sagt Aschpetkin.

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Militärparade

Militärparade am 17. August, dem Tag der russischen Luftwaffe und zugleich Gründungstag der Siedlung in Agalatowo.

Die Siedlung feiert ihre Gründung vor 25 Jahren

Fast 30 Jahre später, am 17. August 2019, steht nun Aschpetkin in der Paradeuniform der russischen Luftwaffe vor dem Haus mit der Nummer 150. Fünf Stockwerke, rosa Anstrich, Blumen im Vorgarten, Bettlaken an der Wäscheleine. Man wohnt hier gern. Es ist der Tag der russischen Luftwaffe. Zusammen mit dem 9. Mai, der an den Sieg über Nazi-Deutschland erinnert, und dem 15. Februar, der den Abzug der russischen Truppen aus Afghanistan 1989 wachruft, ist er für Aschpetkin und seine Kameraden ein „heiliger Tag“. Aschpetkin hat auch in Afghanistan gedient, anders als bei Parchim tut er sich mit Erzählungen über die Zeit dort schwer. Heute besonders, denn das ganze Dorf ist in Feierlaune: Um elf Uhr marschieren die Veteranen durch Agalatowo, danach werden auf dem Friedhof Kränze niedergelegt und an der Ortseinfahrt, an der auf steinernen Podesten zwei Hubschrauber stehen, Reden gehalten. Dabei geht es auch um Agalatowo, denn der 17. August gilt als Gründungstag der Siedlung – 25 Jahre ist das jetzt her.

„Wir wohnen im ersten Haus, das 1994 fertig wurde“, sagt Aschpetkin stolz. Es ist eines der acht Gebäude mit insgesamt 545 Wohnungen, die im Rahmen des deutschen Wohnungsbauprogramms in Agalatowo errichtet wurden – und zwar von der finnischen Firma Poulimatka. Da es sich um ein Megaprojekt handelte, musste Deutschland international ausschreiben. So kamen auch Bauunternehmen aus der Slowakei, der Türkei, Südkorea und Finnland zum Zuge. Federführend für das Bauvorhaben in Agalatowo war der Baukonzern Züblin aus Stuttgart. Zur Einweihung kam Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt – übrigens in Begleitung von Wladimir Putin, der bei der Stadt Sankt Petersburg für internationale Wirtschaftsbeziehungen verantwortlich war. Ein Foto dieses Ereignisses schmückt immer noch das Zimmer von Bürgermeister Wladimir Sidorenko. Dazu sagt er heute: „Tja, die deutsch-russischen Beziehungen könnten besser sein. Aber wir werden uns wieder annähern. Unsere Länder haben eine feste Freundschaft verdient.“

Schulleiterin Sergijenko

Die Schulleiterin Swetlana Sergijenko ist stolz auf die moderne Ausstattung und den baulichen Zustand der Schule: zwei Schwimmbäder, interaktive Tafeln in jeder Klasse und eine Kantine, die auch den Dorfbewohnern offensteht.

Familien schätzen den „finnischen Baubestand“

Weit über die Grenzen von Agalatowo hinaus seien die Häuser als „finnischer Baubestand“ bekannt, erklärt Sidorenko. Dies sei ein Gütesiegel. „Als sie gebaut wurden, entsprachen sie einem VIP-Standard, den es in Russland nicht gab.“ Bis heute seien sie begehrt und kosteten mehr als vergleichbare Wohnungen in Sankt Petersburg. Die naturliebenden Finnen sind behutsam vorgegangen: Zwar musste für Agalatowo Wald gerodet werden, ganze Alleen sind aber erhalten worden, was die Siedlung von Anfang an lebenswert machte. „Als ich unsere Wohnung zum ersten Mal sah, kam ich aus dem Staunen nicht heraus“, sagt Marina Aschpetkina, Sergejs Ehefrau, die in der örtlichen Klinik als Krankenschwester arbeitet. „Damals waren wir es gewohnt, dass man in neuen Wohnungen noch sehr viel renovieren und aufräumen musste. Hier jedoch waren die Wände völlig gerade, die Küche schon eingebaut und Garderobenhaken festgeschraubt. Wir konnten unsere Möbel hinstellen und loswohnen.“ Mit Sergej, Marina und ihren beiden Söhnen Wlad und Slawa zog auch die Schlafzimmergarnitur „Großer Schwerin“ ein, nach der Währungsunion mit Westgeld gekauft. Sie steht immer noch im Schlafzimmer des Ehepaars, ein Souvenir aus der guten alten Zeit.

Marinas Begeisterung teilen viele in Agalatowo – bis heute. Ob die Schulleiterin Swetlana Sergijenko, die als Zugereiste zunächst warten musste, bis eine der begehrten Wohnungen frei wurde, oder Antonida Sawranskaja, deren Vater in der Tschechoslowakei stationiert war und auf Umwegen nach Agalatowo kam. Sie vertritt die zweite Generation, die sich in Agalatowo niedergelassen hat. Ihr ältester Sohn geht in die Schule, die sie auch besuchte. Die Lehranstalt wurde damals für die Offizierskinder zusammen mit den Häusern errichtet. Ein bemerkenswerter Zufall: Die Wohnung, in der sie wohnen, hat ihr Mann Alexej Rogownew mitgebaut. Als jungem Arbeiter fiel ihm die moderne Bauweise auf: „Alles war neu für uns, die Materialien und die Art des Bauens“, schwärmt er. So pflegen die Bewohner von Agalatowo bis heute das hochwertige Parkett oder die Fenster mit doppelten Holzrahmen. „Wir tun alles, damit die Elemente möglichst lang erhalten bleiben“, sagt Ehefrau Antonida.

Wlad Aschpetkin und Familie

In der Wohnung von Wlad Aschpetkin spielen seine Kinder Kiril und Andrej. Es gibt starke Argumente für junge Familien mit Kindern, nach Agalatowo zu ziehen.

Agalatowo ist ein Ort mit Anziehungskraft

Auch die Kinder der Aschpetkins sind in Agalatowo geblieben. Der 34-jährige Slawa lebt momentan mit seiner fünfjährigen Tochter Anschelika in der elterlichen Dreizimmerwohnung. Sein Bruder Wlad, 35, hat eine eigene, identische Wohnung aus dem „finnischen Baubestand“ ergattert, 78 Quadratmeter für fünf Millionen Rubel, knapp 70.000 Euro. Viel Geld für eine Familie mit vier Kindern. „Ich komme aus Sankt Petersburg“, sagt Ehefrau Nastja. „Erst konnte ich es mir nicht vorstellen, im Dorf zu wohnen, aber etwas Besseres hätte mir nicht passieren können.“ Zwar müssen sie alle nach Sankt Petersburg zur Arbeit pendeln, was zwei Stunden dauern kann, aber fehlende Arbeitsplätze scheinen der einzige Nachteil von Agalatowo zu sein.

Was das Leben dort so glücklich macht, ist der Zusammenhalt. Manche Nachbarn verbindet seit 1977 die Militärlaufbahn: erst Kasachstan, dann Afghanistan, Parchim, Tschetschenien. „Besonders zusammengeschweißt hat uns die Zeit, in der wir in Wohnheimen auf die Fertigstellung der Häuser warteten“, erzählt Michail Jermolajew, der ebenfalls in Parchim gedient hat. 17 Familien lebten dort wie eine große. Man teilte Küche, Essen, Sorgen. Und natürlich feierte man zusammen: Deshalb sei auch der 17. August so wichtig, so Jermolajew, der für die Organisation zuständig ist, vor allem, seit das Regiment im Jahr 2000 aufgelöst wurde. „Das hat mit unserer Identität zu tun.“

Diese besondere Atmosphäre von Agalatowo lockt auch die jungen Leute aus der Umgebung. Wie die beiden Schülerinnen Daria Demjanowitsch und Anna Schiwotowa, die fünf Kilometer entfernt wohnen und sich für das Fest am 17. August auf ihre Motorräder setzten. „Wir kommen gern hierher, und nicht nur, wenn es etwas zu feiern gibt“, sagt die 16-jährige Daria. „Man spürt, dass die Menschen hier von besonderem Schlag sind. Viele von ihnen sind Soldaten, Flieger, Veteranen, mit einem Wort: unsere Helden.“

Dass Agalatowo eine Zukunft hat, sieht man an den vielen Baukränen, die das Dorfbild prägen. Junge Familien zieht es massenweise hierher: In der Hälfte der 59 Schulklassen lernen Grundschüler. Sie wachsen heran mit Blick auf die beiden Hubschrauber an der Ortseinfahrt und einem starken Bewusstsein für die Vergangenheit.

Der Baum, den Helmut Lamp den Russen in Parchim mitgegeben hatte, hat übrigens nicht überlebt. Der Winter 1992 war zu hart. Am 17. August 2019 pflanzte Agalatowo feierlich einen neuen: für die deutsch-russische Freundschaft.

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Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten im Jahr 2015 die Agenda 2030. Ihr Herzstück ist ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs). Unsere Welt soll sich in einen Ort verwandeln, an dem Menschen ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig in Frieden miteinander leben können.

Auf KfW Stories veröffentlicht am 22. Oktober 2019.