Eine Frau steht angelehnt an eine Steinwand

    „Bei der dezentralen Energiewende ist der Weg das Ziel“

    Der Übergang von einer kraftstoff- zu einer strom­basierten Energie­wirtschaft ist in vollem Gange. Eine Reihe von Technologien steht dafür bereit, dass Strom aus erneuer­baren Quellen die fossilen Brenn­stoffe auch in der Wärme­versorgung, in industriellen Prozessen und im Verkehr ersetzen kann. Immer mehr Betriebe gehen dabei den klima­freundlichen Weg der dezentralen Eigen­versorgung mit Öko­strom und installieren zum Beispiel eine Photovoltaik- oder kurz PV-Anlage auf dem Firmen­dach. Wo liegen die Möglich­keiten und Hindernisse für Unter­nehmen, die selbst erzeugten Öko­strom ins Netz einspeisen? Diese und weitere Fragen beantwortet Kerstin Andreae, ehemalige Grünen-Politikerin und heutige Vorsitzende der Hauptgeschäfts­führung des Bundes­verbands der Energie- und Wasser­wirtschaft (BDEW).

    Ökostrom gewinnt auch auf dem Wärme­markt an Bedeutung, zum Beispiel zum Betreiben von Wärmepumpen.

    Das stimmt. Um fossile Energie­träger zu ersetzen, wird hier künftig deutlich mehr grüner Strom nach­gefragt – auch in den Bereichen Verkehr und Industrie. Trotz der stetig steigenden Effizienz elektrischer Geräte ist zu erwarten, dass der Strom­verbrauch in den kommenden Jahren deutlich ansteigen wird.

    Das Bundeswirtschaftsministerium geht von einem Anstieg des deutschen Brutto­verbrauchs im Jahr 2030 um 17 Prozent im Vergleich zu 2021 aus. Ist die Energie­wirtschaft darauf vorbereitet?

    Um die Klimaziele zu erreichen, müssen wir die erneuer­baren Energien deshalb noch deutlich ambitionierter ausbauen. Wir brauchen einen nie dagewesenen PV-Boom. Hemmnisse für den Windenergie­ausbau müssen endlich beseitigt werden. Auch der Aus- und Umbau der Energi­enetze muss voran­getrieben werden. Nur ein konsequenter Netz­ausbau stellt sicher, dass grüne Energie jederzeit dorthin gelangen kann, wo sie gebraucht wird.

    Der Umbau, den Sie ansprechen, erfordert Anpassungen, auch bei Energie­versorgern und gewerblichen Nutzern. Der dezentrale Ansatz ist relativ neu für beide Seiten. Wie verändert sich dadurch das Verhältnis von Energie­versorgern und Unternehmen?

    Die Energieversorger sind bei dezentralen Anwendungen nicht nur Energie­lieferanten. Sie werden zu Energie­dienstleistern: Sie stellen die Infrastruktur und sorgen für ein stabiles System. Für dezentrale Selbst­versorger, wie zum Beispiel Gewerbe­betriebe, können sie Geschäfts­modelle aufsetzen oder Paket­lösungen anbieten, beispiels­weise PV-Anlagen mit Speichern, für die sie auch noch die Arbeits­schritte bis zur Inbetrieb­nahme übernehmen.

    Welche Chancen für Unternehmen ergeben sich aus diesem dezentralen Ansatz?

    Für das einzelne Unternehmen wäre die komplette Eigen­versorgung ohne Netz­anschluss sehr teuer. Die Einspeisung von nicht selbst genutztem Strom sowie der Bezug von Netz­strom bei einer Unter­versorgung sind wesentliche Komponenten eines dezentralen Energie­systems. Wichtig ist, dass die System­stabilität und die Finanzierung der Infrastruktur auch bei hohen Anteilen dezentraler Energie­erzeugung und -nutzung noch gewähr­leistet sind. Derzeit ist dies noch nicht der Fall. Hier ist die Politik gefragt. Sie muss durch geeignete regulatorische Rahmen­bedingungen für eine dauerhaft tragfähige Ausweitung der dezentralen Anwendungen sorgen. Dann wird die Überschuss­einspeisung eine attraktive Einnahme­quelle für die künftigen Prosumer.

    Wie funktioniert Prosuming auf dem Energiemarkt?

    Als Prosumer­ bezeichnet man Verbraucherinnen und Verbraucher (engl. Consumer), die ein von ihnen verwendetes Produkt selbst produzieren. Bezogen auf die sich wandelnde Energie­wirtschaft werden Konsumentinnen und Konsumenten zu Stake­holdern, die sich am Energie­system beteiligen. Mitglieder einer Energie­gemeinschaft, die zum Beispiel zusammen eine PV-Anlage betreiben, produzieren einen Teil ihres Stroms selbst und sind so unabhängiger von steigenden Preisen. Sie sparen zudem Geld, weil sie ihren eigenen Strom nutzen. Wenn sie den nicht genutzten Strom ins öffentliche Netz einspeisen, erhalten sie dafür eine Vergütung.

    Derzeit besteht der überwiegende Teil der dezentralen Eigen­versorgung aus PV-Anlagen auf Einfamilien­häusern mit Haus­speicher. Aber wie ist der aktuelle Stand der gewerblichen Eigen­versorgung?

    Bei Einfamilienhäusern gibt es bereits klare Regeln zum Umgang mit Überschuss­einspeisung und Netz­bezug. Nach diesen Regeln handeln die Verteilnetz­betreiber, bei denen die PV-Anlagen angeschlossen sind. Kommen wir aber künftig zu einer Energie­welt, die stärker von Prosuming geprägt ist, so wird es auch ausgefeilterer regulatorischer Rahmen­bedingungen bedürfen, damit das System auch künftig stabil läuft und nachhaltig finanziert wird. Dann werden noch wesentlich mehr Unter­nehmen der Energie­wirtschaft im Bereich von Dienst­leistungen wie zum Beispiel dem Angebot von Komplett­systemen oder der Entwicklung einer dezentralen Energie­versorgung für ganze Quartiere aktiv sein. Hier gibt es noch viel Luft nach oben.

    Wo liegt das größte Entwicklungspotenzial?

    Eindeutig bei der Anwendung der neuen Technologien. Ich denke hier an Energiemanagement­systeme, Anwendungen der Elektro­mobilität oder Strom­speicher. Darüber hinaus wird die Schnitt­stelle zwischen der dezentralen Eigen­versorgung und dem öffentlichen Netz ein wichtiger Punkt sein. Mit der intelligenten Eigen­versorgung und dem Beschicken des Energie­marktes durch Belieferung in Zeiten hohen Bedarfs ergeben sich künftig interessante Geschäfts­modelle für die Prosumer und die Energie­dienstleister. Die vermutlich länger­fristig hohen Energie­preise machen die Eigen­versorgung auch wirtschaftlich noch interessanter als bisher und bringen zahlreiche Anwendungen in die Wirtschaftlichkeit.

    Eine Frau, die erklärend gestikuliert

    „Die vermutlich länger­fristig hohen Energie­preise machen die Eigen­versorgung auch wirtschaftlich noch interessanter als bisher.“

    Kerstin Andreae, Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW)

    Gibt es denn bereits Projekte, bei denen die Zusammen­arbeit zwischen Energie­versorgern und Unter­nehmen richtig gut klappt?

    Ein gutes Beispiel für eine gelungene Zusammen­arbeit ist das Projekt GrowSmarter. Der Energie­versorger RheinEnergie hat gemeinsam mit Partner­unternehmen am Beispiel der Sanierung eines Stadt­quartiers in Köln-Mühlheim den Beweis angetreten, dass Sektor­kopplung funktioniert. Die energetische Sanierung des Quartiers mit 900 Wohn­einheiten sowie die Verzahnung von Energie- und Wärme­erzeugung, Mobilität und Kommunikations­technologien hat den Primär­energiebedarf und die Emissionen dort drastisch gesenkt.

    Welche technischen und büro­kratischen Hürden gibt es noch zu überwinden?

    Für Quartiersanwendungen, die über die Eigen­versorgung mit PV-Strom vom privaten Dach hinaus­weisen, sind es derzeit vor allem regulatorische Hürden. So gibt es zum Beispiel umfang­reiche Mess­anforderungen. Ein wesentliches Detail ist auch die Regelung, dass eine Wohnungs­baugesellschaft durch die Installation einer PV-Anlage zur Belieferung der Mieter gewerbesteuer­pflichtig wird – und zwar nicht nur für den PV-Strom, sondern auch für die Miet­einnahmen. Die Inbetrieb­nahme einer PV-Anlage kann Monate dauern, da die Abläufe häufig nicht standardisiert sind und zudem mittler­weile auch Fach­personal zur Errichtung und Inbetrieb­nahme der PV-Anlagen knapp ist. Wesentliche Vereinfachungen bringt die Digitalisierung, die viele Abläufe automatisiert und so viel Aufwand einspart. Derzeit schreitet sie allerdings noch zu langsam voran.

    Mit welchen Wünschen treten Energie­versorger bezüglich der Einspeisung ins Netz an den BDEW heran? Was wünschen sich im Gegenzug die Unternehmen?

    Die Energieversorger wünschen sich vor allem zukunfts­feste Regeln für die Ausweitung des Prosuming, damit sie sich auf einen dauerhaft gültigen regulatorischen Rahmen verlassen können. Der BDEW arbeitet derzeit an Vorschlägen für eine umfassende Neu­regelung des Prosuming. Eine noch offene Frage ist die Rolle der Energie­wirtschaft bei der Abstimmung der dezentralen Eigenversorgungs­anwender unter­einander. Optimieren sich die Selbst­versorger jeweils bezogen auf den eigenen Bedarf, so braucht es umso mehr auch Instanzen, die das System ordnen, seine Entwicklung in die richtige Richtung steuern und für System­stabilität sorgen.

    Wie sieht das Ziel aus und wann können wir es erreichen?

    Bei der dezentralen Energie­wende ist der Weg das Ziel: Es wird weiterhin große Einspeiser in Kraftwerks­stärke geben, wie etwa die großen Wind­parks auf See und an Land. Viele große PV-Anlagen werden auch künftig ihren Strom ins Netz einspeisen. Gleich­zeitig bringen dezentrale Anwendungen die Energie­wende in die Städte und lösen dort Investitionen aus. Das macht eine aktive Teil­habe für Bürgerinnen und Bürger an der Energie­wende möglich. Nur so können wir unseren durch Wärme­pumpen, Wasserstoff­erzeugung und Elektro­mobilität noch wachsenden Strom­bedarf so schnell wie möglich decken.

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