Gründen

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Barrierefrei ins Kino

Filme ohne Barrieren – das ist die Mission der beiden Apps „Greta“ und „Starks“, die einen Kinobesuch auch für blinde oder gehörlose Menschen selbstverständlich machen. Die Gründerin Seneit Debese gewann damit den KfW Award Gründen und die Herzen des Publikums.

Grosses Kino

Wie die Apps „Greta“ und „Starks“ Kinofilme für Blinde und Gehörlose erfahrbar machen (KfW Bankengruppe/n-tv).

Der trübe Dezembertag im Jahr 2013 ist eine aufregende Premiere für Seneit Debese. Als sie in einem gut gefüllten Berliner Kino die Bühne betritt, kann die Hälfte der Gäste sie nicht sehen und die andere Hälfte sie nicht hören. Blindenstöcke lehnen an den roten Polstersesseln. Hände gestikulieren lebhaft in Gebärdensprache über drei Sitzreihen hinweg. Alle haben ein Smartphone in der Hand. Genau das Publikum, das sich die Gründerin im Kino wünscht.

Seneit Debese stellt ihre mobilen Anwendungen vor: Die App Greta schildert in den Dialogpausen das Geschehen auf der Leinwand. Die sehbehinderten oder blinden Menschen tragen für diese „Audiodeskription“ genannten Hörfassungen einen Kopfhörer. Die App Starks liefert synchrone Untertitel und beschreibt auch die Geräusche im Film. Hörgeschädigte können so dem Film folgen.

KfW Research

Der Abwärtstrend bei Neugründungen ist auch in der Kreativwirtschaft prägend. Eine KfW-Research-Studie zeigt, welche Teilbereiche besonders betroffen sind.

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Eine App soll aus Blinden und Gehörlosen Kinofans machen? Ein Vertreter des Blinden- und Sehbehindertenvereins steht neben Seneit Debese auf der Bühne. Er ist skeptisch und sagt es auch rundheraus. Der Film für die Probe aufs Exempel heißt „Imagine“. Er handelt von einem blinden Lehrer, der ohne seinen Stock leben möchte und sich damit über jede Menge Konventionen hinwegsetzt. So wie Seneit Debese, die mit viel Energie für ihre Idee gekämpft hat. Das begeisterte Feedback der Besucher nach dem Abspann gibt ihr Recht. Der Anfang des barrierefreien Kinos ist gemacht.

Marketing mit Leidenschaft

Andres Schüpbach steckt viel Energie in das Wachstum des Unternehmens – und in das Erlernen der Gebärdensprache.

Die in Eritrea geborene und in Deutschland aufgewachsene Seneit Debese beschreibt sich selbst als einen „Marketing-Typ mit sozialer Mission“. Die Filmbranche lernte sie als Controllerin bei einem Kinoverleiher kennen. Dann machte sie sich mit einem eigenen Verleih für Independent-Filme selbstständig, vermittelte Sponsoren und produzierte Reportagen. Der Wendepunkt kommt, als sie an einem Portrait über eine blinde Läuferin aus Eritrea arbeitet, die sehr unabhängig lebt, von der Kinokultur aber ausgeschlossen ist. „Das hat mich nicht mehr losgelassen. Ich habe überlegt, ob es einen Markt für eine softwarebasierte Lösung geben kann. Und da ich wusste, welch große Hilfe ein Smartphone für blinde Menschen ist, musste es eine App sein“, erinnert sich Debese.

Alle modernen Mobiltelefone sind mit einer VoiceOver-Funktion ausgestattet. Ist sie aktiviert, wird alles in Sprache ausgegeben. So sagt das Gerät, wer anruft, liest E-Mails vor oder den Fahrplan. Die technologische Basis für eine Audiodeskription ist damit vorhanden.

Die Kino-Apps

In den Apps „Greta“ und „Starks“ sind sowohl US-Blockbuster wie auch Independent-Produktionen gelistet.

Doch eine App-Entwicklung kostet enorm viel Geld, und viele raten der Gründerin, die Finger davon zu lassen. Sie zweifelt ebenfalls, schließlich hat sie noch nie von einer solchen App gehört, auch in den USA gibt es nichts Vergleichbares. Ist sie hier wirklich einer echten Innovation auf der Spur?

Seneit Debese kennt die Möglichkeiten der Förderung und füllt viele Anträge aus. Das Medienboard, die Filmförderungsanstalt und das Bundesministerium für Kultur und Medien unterstützen sie mit Zuschüssen oder Darlehn. Auch Österreich und die Schweiz sind im Boot. Betroffenenverbände werden einbezogen. Zeitgleich läuft das Marketing an, und Kinobetreiber legen in den Foyers Greta & Starks-Postkarten in Braille-Schrift und mit Popcornduft aus.

Als der Kooperationspartner Ericsson eine erste Version programmiert, hilft der Zufall dem Projekt: Die Richtlinien der deutschen Filmförderung ändern sich. Nur Produktionen, die mit Audiodeskription und Untertitelung ausgestattet sind, werden gefördert. Das ist ein Ansporn, das Konzept noch energischer voranzutreiben und auszuweiten. Eine zweite App, die Starks genannt wird, kommt hinzu. Nun können auf dem Smartphone auch Untertitel zum Film gelesen werden.

Kostenloser Service

Barbara Fickert ist leidenschaftliche Kinogängerin, durch die Hörfassungen wird ihre Sehbehinderung zur Nebensache.

Seneit Debese ist jetzt viel unterwegs, um ihre Lösung Kinobetreibern und Anwendern vorzustellen. In der Schweiz lernt sie dabei den Marketing-Manager Andres Schüpbach kennen. Er ist begeistert und zieht nach Berlin, um das Unternehmen Greta & Starks mit ihr zusammen weiterzuentwickeln. Heute führen sie die Firma gemeinsam.

In einer Remise mit Garten im Stadtteil Prenzlauer Berg bauen fünf Mitarbeiter den Markt in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Belgien und Luxemburg auf. Viele weitere Länder wie Polen, Israel, Brasilien und Südkorea haben bereits ihr Interesse bekundet. „Es ist kein Nischenprodukt. Wir arbeiten mit den Majors zusammen, also wichtigen US-amerikanischen Produktionsfirmen und Verleihern. Daher sind auch Blockbuster wie Star Wars oder Fast and Furious und Disneyfilme bei uns gelistet“, sagt Andres Schüpbach.

Grenzenlos

Greta & Starks plant Untertitelungen und Hörfassungen in anderen Sprachen, so wird barrierefreies Kino auch international.

Seine Mittagspause verbringt er heute im Kino. Hier testet er auf seinem Smartphone die Untertitelung eines neuen Animationsfilms. Zuvor lädt er sich im Foyer die Fassung herunter. Das Netz ist schlecht im abgeschirmten Saal, daher funktioniert die App offline. Sie synchronisiert sich, sobald der Film beginnt und die Dialoge erscheinen auf dem Display. „In ein oder zwei Jahren ist das Handy dazu nicht mehr nötig. Wir arbeiten an einer Hardware-Variante. Ein optisches Display in einer Datenbrille blendet dann die Texte ein. Solche Wearables werden in absehbarer Zeit zum Kino gehören wie heute die 3D-Brille und Untertitel in verschiedenen Sprachen anbieten“, verrät Andres Schüpbach.

Besonders wichtig ist Greta & Starks, dass die Apps für die Nutzer kostenlos sind. Das ist möglich, weil die Verleiher das Unternehmen mit der Bereitstellung beauftragen. Für Audiodeskriptionen arbeiten nicht nur Regisseur und Sprecher zusammen. Auch die Anwender sind eingebunden, da nur sie die Qualität beurteilen können. Die barrierefreien Versionen kosten die Verleiher rund 8.000 bis 10.000 Euro pro Film – eine Investition in Kinoerlebnisse, die alle erreichen.

Regelmäßige Nutzerin der App Greta ist Barbara Fickert. Sie hat zwei Prozent Sehkraft, damit kann sie hell und dunkel unterscheiden. „Ich bin immer gern ins Kino gegangen und als ich von Greta und Starks gehört habe, war ich natürlich neugierig. Nach der ersten Vorstellung der App wusste ich sofort, das ist ein Quantensprung fürs Kino! Ich kann nun endlich mitreden. Früher musste ich bei den Filmen auf das Erscheinen der DVD mit Hörfassung warten. Ich bin nicht nur leidenschaftlicher Filmfan, inzwischen schreibe ich in meinem Blog Blindgängerin auch darüber.“ Seneit Debese freut sich mit ihr: „Barbara ist als Filmkritikerin auf dem Internationalen Leipziger Filmfestival akkreditiert, das ist für mich wirkliche Inklusion und die Erfüllung all meiner Träume!“

Auf KfW Stories veröffentlicht am: Dienstag, 6. Februar 2018

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