Blick über den Nationalpark Bukit Tigapuluh
Biodiversität

Biodiversität

„Unsere Rechte sollten geachtet werden“

Indigene Völker schützen einen großen Teil der Artenvielfalt auf der Erde, haben aber häufig keine Landtitel. Die Philippinin Joan Carling, Direktorin der Organisation Indigenous Peoples Rights International, fordert, dass ihre Völker endlich als Partner anerkannt werden.

Lachende Frau im Interview
Joan Carling

ist Aktivistin, Umweltschützerin und eine Stimme der indigenen Völker. Sie stammt aus der Bergprovinz in der Cordillera Central Mountain Range. Joan Carling hat mehrere Preise erhalten, darunter den Champions of the Earth Lifetime Achievement Award des United Nations Development Programme (UNDP). Sie wird an der bevorstehenden Artenschutzkonferenz in Montréal teilnehmen.

Die Artenvielfalt geht mit atemberaubender Geschwindigkeit verloren. Ist Ihnen das neu?

JOAN CARLING Nein. Indigene Völker auf der ganzen Welt äußern seit vielen Jahren ihre Besorgnis. Aber niemand hat auf uns gehört. Der Verlust der Artenvielfalt ist ein ernstes Problem. Und es ist eine existenzielle Frage für unser Überleben und Wohlergehen, da wir direkt mit und von der Natur leben. Ich würde sagen, wir sind eine Art Frühwarner, auf den niemand hören wollte. .

Wie haben Sie bemerkt, dass sich etwas ändert?

Alle unsere Völker haben es überall bemerkt. Ich komme von den Philippinen, von den wunderschönen Reisterrassen von Banaue, die als das achte Weltwunder bezeichnet werden. Vor einigen Jahren trat dort plötzlich ein Wurm auf. Er war dort bis dahin völlig fremd und ein klares Anzeichen dafür, dass sich die Ökosysteme verändern. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Die Inuit äußerten bereits vor Jahrzehnten ihre Besorgnis darüber, dass das Eis außergewöhnlich schnell schmilzt. Es ist nichts passiert.

Warum wurde nicht auf Sie gehört?

Der Grund dafür ist diese arrogante Einstellung, dass das Wissen unserer indigenen Völker keine Rolle spiele. Es wurde als rückständig, unwissenschaftlich, ungenau, sozusagen nur als eine Art Glaubenssätze betrachtet – und daher nicht ernst genommen.

Hat sich das in der Zwischenzeit geändert?

Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass indigene Völker eine entscheidende Rolle beim Erhalt der Natur spielen. Es gibt auch einen diesbezüglichen Abschnitt in dem neuen Globalen Rahmen für Biodiversität ( Global Framework for Biodiversity), der auf dem Gipfel in Montréal im Dezember verhandelt wird. Darin heißt es, dass die Rechte der indigenen Völker im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsstandards anerkannt werden sollten. Aber diese Passage steht noch immer in Klammern; es bleibt abzuwarten, ob sie verabschiedet wird.

Tanzzeremonie

Lassen Sie uns über die Bedeutung indigener Gemeinschaften für die Natur sprechen. Wie viele gibt es und wie viel biologische Vielfalt bewahren sie?

Den jüngsten Zahlen der UN zufolge gibt es weltweit mehr als 460 Millionen Menschen, die indigenen Völkern angehören. Das entspricht etwa sechs Prozent der Weltbevölkerung. Aber unser Gebiet macht schätzungsweise 20 bis 25 Prozent der Landmasse aus. Und diese Fläche beherbergt 60 bis 80 Prozent der weltweiten Artenvielfalt. Was sagt uns das? Erstens, dass wir uns gut um die Natur kümmern, denn ansonsten wäre sie genauso zerstört worden wie an so vielen anderen Orten. Und zweitens, dass wir wichtig sind, um die Natur auch in Zukunft zu schützen.

Wie wird dieses Land verwaltet? Wie leben Sie dort?

Wir haben unterschiedliche Verwaltungssysteme, meist abhängig vom Ökosystem. Aber als Faustregel gilt: Der Großteil des Landes gehört allen. So teilen wir zum Beispiel die Wälder, und wir haben ein Gewohnheitsrecht, das uns vorgibt, wie wir sie nutzen dürfen. Dabei handelt es sich in der Regel um verschiedene mündlich vereinbarte Regeln, z. B. dass wir keine jungen Bäume fällen und nicht jagen dürfen, wenn die Tiere trächtig sind. Es gibt also klare Vorschriften, die wir befolgen. Wenn jemand gegen dieses Gewohnheitsrecht verstößt, wird diese Person von der Gruppe, in der Regel von den Älteren, bestraft. Außerdem haben wir Wiederaufforstungsprogramme, weil wir die abgeholzten Baumbestände ersetzen müssen. Das ist Teil unserer Überzeugung. Wir haben eine Verbindung zu den Bäumen. Meine Großeltern zum Beispiel wählten schon früh einen Baum aus, der für ihre Särge verwendet werden sollte. Dann wurde dieser Baum viele Jahre nicht angerührt, bis sie verstarben und ihre Särge aus genau diesem Baum hergestellt wurden.

Viele von Ihnen haben keine Landtitel, oder?

Ja, die Mehrheit der indigenen Völker hat keine Landtitel, weil viele Länder uns und unsere Rechte nicht anerkennen. Nur etwa zehn Prozent von uns haben eine rechtliche Anerkennung. Das bedeutet, dass 90 Prozent aus verschiedenen Gründen, wie Bergbau, Abholzung oder andere wirtschaftliche Aktivitäten, bedroht sind.

Was sollte hier geändert werden?

Wir sollten mit unseren Rechten, Kulturen und Gebräuchen anerkannt werden. Unsere Rolle sollte anerkannt werden und nicht von außen bedroht sein, wie es derzeit so oft der Fall ist. Das bedeutet, dass ein neuer Umgang mit der Natur erforderlich ist. Wir müssen unseren Blick auf die Natur verändern und wirklich verstehen, dass wir den verbleibenden Teil der Natur schützen müssen. Sonst werden wir alle in echte Schwierigkeiten geraten. Es sollte keine Kompromisse mehr geben. Nehmen wir Gold als Beispiel. 70 Prozent des Goldes werden für Schmuck verwendet; das ist meiner Meinung nach nichts Lebensnotwendiges. Also hören wir auf, es abzubauen. Wir können wiederverwerten, was da ist, und aufhören, die Vorkommen auszubeuten. Das wäre ein ganz konkretes Beispiel dafür, wie man etwas verändern kann.

UN-Konferenz über die biologische Vielfalt

7. bis 19. Dezember 2022 in Montréal, Kanada

Die 15. Konferenz der Vertragsparteien (COP15) des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (CBD) ist ein internationales Treffen, an dem Regierungen aus der ganzen Welt teilnehmen. Die Teilnehmer werden neue Ziele festlegen und einen Aktionsplan für die Natur für das nächste Jahrzehnt entwickeln.

UN-Konferenz über die biologische Vielfalt

Das neue Global Framework beinhaltet das sogenannte 30x30-Ziel, wonach 30 Prozent der Erdoberfläche geschützt werden sollen. Sind Sie mit diesem Ziel einverstanden? Und was würde das für die indigenen Völker bedeuten?

Ich befürworte dieses Ziel. Ich finde es gut, dass die internationale Gemeinschaft ein klares Schutzziel vorgibt. Dieses Ziel darf jedoch nicht auf Kosten der indigenen Gemeinschaften erreicht werden. Wir sollten nicht Opfer dieses Ziels werden in dem Sinn, dass wir von unserem Land vertrieben werden. Das ist Festungsnaturschutz – ein Konzept, mit dem wir überhaupt nicht einverstanden sind. Wir müssen beschützt und nicht von unserem Land vertrieben werden. Wir wollen als Partner gesehen werden. Bei allen Schutzmaßnahmen muss also immer berücksichtigt werden, dass dort möglicherweise indigene Völker leben, die eine gesicherte Lebensgrundlage benötigen. Daher denke ich, dass Schutz nur ein Teil der Lösung ist. Wir müssen generell nachhaltiger leben, um die Wirtschaftsstruktur zu ändern.

Sprechen Sie hier für sich selbst oder für die indigene Gemeinschaft im Allgemeinen?

Einige indigene Organisationen stehen dem 30x30-Ziel sehr kritisch gegenüber, eben weil sie befürchten, dass die Menschen von ihrem Land vertrieben werden und dann nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Alles in allem befürworte ich das Ziel, weil wir, wie ich bereits sagte, im Einklang mit der Natur leben müssen. Und dabei helfen Schutzgebiete. Doch eine Bedingung dafür ist, dass dann auch unsere Rechte respektiert werden. 30x30 ist für mich also eine Chance, wenn wir es richtig machen.

Sind Sie optimistisch, was die bevorstehenden Verhandlungen angeht?

Eher nicht. Es gibt noch viel zu verhandeln. Ich hoffe, dass die Weltöffentlichkeit der Notwendigkeit, den Raubbau an der Natur zu stoppen, mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wir müssen die Artenvielfalt bewahren. Aber ich bin nicht allzu optimistisch, was die COP15 angeht – leider. Allerdings bin ich immer offen für positive Überraschungen.

Veröffentlicht auf KfW Stories am 7. Dezember 2022

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Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten im Jahr 2015 die Agenda 2030. Ihr Herzstück ist ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs). Unsere Welt soll sich in einen Ort verwandeln, an dem Menschen ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig in Frieden miteinander leben können.