Katrin Böhning-Gaese untersucht, wie sich Klimawandel und Landnutzungsänderungen auf die Artenvielfalt auswirken. Mit KfW Stories sprach die Biologin über die Gefahren des Artenschwundes und darüber, weshalb die Corona-Krise eine einmalige Gelegenheit geboten hat, unsere Volkswirtschaften grüner zu machen.
Zur Person
Dr.Katrin Böhning-Gaese ist Professorin an der Frankfurter Goethe-Universität und Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums. Außerdem gehört sie der Leopoldina an – der Deutschen Akademie der Naturforscher – und ist Vizepräsidentin der Leibniz-Gemeinschaft. Sie forscht überwiegend auf dem Gebiet der Ökologie.
Frau Dr. Böhning-Gaese, wie beurteilen Sie die Corona-Pandemie als Biologin? War das Überspringen des Virus nur ein unglücklicher Zufall?
Frau Dr. Böhing-Gaese: Die Pandemie ist auf jeden Fall mehr als ein unglücklicher, quasi schicksalhafter Zufall: Ein Erreger ist von Tieren auf den Menschen übergesprungen, möglicherweise von Fledermäusen über das Schuppentier auf uns. Dieses Tier erfreut sich in verschiedenen asiatischen Ländern großer Beliebtheit. Man spricht seinen Schuppen potenzsteigernde Wirkung zu; das Fleisch gilt als Delikatesse. Deshalb nimmt man an, dass es als Zwischenwirt gedient hat, zweifelsfrei erforscht ist das allerdings noch nicht. Das heißt, der Mensch ist in zu engen Kontakt mit Wildtieren getreten – und dabei kann es immer zu einem Überspringen von Viren kommen. Auch in Zukunft.
Schlägt hier die Natur gewissermaßen zurück?
So würde ich es nicht formulieren, weil es um komplexe Zusammenhänge zwischen Natur und Mensch geht, die wir als sozial-ökologische Systeme bezeichnen. Der Mensch hatte in seiner gesamten Geschichte immer wieder mit Viren zu kämpfen. Der Unterschied liegt heute darin, dass viel mehr Menschen auf der Erde leben, sich Erreger dadurch deutlich schneller ausbreiten können. Und das nicht nur an einem Ort, sondern global, durch die Flugverbindungen und unser intensives Reisen. Dadurch kommt es zu Pandemien.
Was könnten wir tun, um solche Krisen künftig zu vermeiden?
Wir sollten auf jeden Fall den mutwilligen Kontakt mit Wildtieren verhindern. Märkte wie in Wuhan, wo Schuppentiere und andere seltene Arten verkauft werden, sind absolut unnötig. Ich bin gegen solche Wildtiermärkte, nicht nur wegen der Epidemien, die daraus entstehen können, obwohl das schon Grund genug wäre. Sondern ich sehe darin auch ein ernsthaftes Arten- und Naturschutzproblem.
Sie würden solche Märkte verbieten?
Ja, ich bin für ein Verbot solcher Märkte. Es gibt in Afrika einen Bushmeat-Handel – das habe ich selbst schon erlebt. Der kann seine Berechtigung haben, weil Tiere aus dem Wald für sehr arme Menschen oft die einzige Proteinquelle sind. Das zu verbieten, steht uns reichen Europäern nicht zu. Aber wenn es beim Handel mit Tieren um Delikatessen und Statussymbole geht, hat das mit Grundversorgung nichts zu tun – und ist aus meiner Sicht dringend zu unterbinden.
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Die Dauerausstellung „Faszination Vielfalt“ im Senckenberg Museum in Frankfurt zeigt etwa 1.000 biologische und geologische Objekte in einer riesigen Wandvitrine.
Es gibt auch Stimmen, die für ein Ausrotten von Fledermäusen eintreten, weil sie wahre „Virenschleudern“ seien. Wie sehen Sie das?
Völlig anders. Statt Märkte zu verbieten, rotten wir Tiere aus, damit nichts auf den Menschen überspringt. Das kann nicht die Lösung sein. Fledermäuse fressen zum Beispiel auch Insekten, die in der Landwirtschaft als Schädlinge vorkommen. Sie betreiben also eine Art natürliche Schädlingsbekämpfung. Und sie bestäuben Bäume, etwa die Sheanussbäume in Westafrika. Nur weil eine Fledermausart vielleicht unter bestimmten Bedingungen etwas überträgt, gleich alle auszurotten, wäre vollkommen abseitig. Wir brauchen im Gegenteil eine möglichst große Artenvielfalt.
Warum ist Biodiversität so wichtig? Könnten wir nicht auch mit weniger Arten auf der Erde gut leben?
Wir sind auf die Natur angewiesen, und zwar auf vielfältigste Weise. Das mag uns nicht immer bewusst sein, ist aber so. Dabei gibt es offensichtliche Abhängigkeiten, wie die Luft, die wir atmen, die Nahrung, die wir essen, oder das saubere Wasser, das wir trinken. Aber auch Böden, Blumen, Flechten, Moose und Insekten, sie alle tragen – mehr oder weniger sichtbar – zu unserem Dasein bei. Man kann sich die Natur wie eine gigantische Maschine vorstellen, die alles herstellt, was wir Menschen für unser Leben abgreifen.
Was sind weniger offensichtliche Dienste der Natur?
Die immateriellen Güter: Die Natur spendet auch Erholung, sie bereichert uns, sie lässt uns ruhig werden, steigert unser Wohlbefinden, macht uns gesünder. Es gibt sogar wissenschaftliche Hinweise darauf, dass der regelmäßige Aufenthalt in einer artenreichen Umgebung unsere psychische Gesundheit fördert.
Die Natur als Therapie und Seelentröster?
Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Aber inzwischen können wir das auch immer häufiger belegen: Wissenschaftliche Studien in England haben zum Beispiel herausgefunden, dass Menschen, die nachmittags in Parks mit vielen Vögeln spazieren gehen, weniger besorgt und weniger depressiv sind. Der Aufenthalt draußen verbunden mit dem Vogelgezwitscher wirkte sich offenbar wohltuend auf ihre Psyche aus. Wir können den Wert von Natur und großer Artenvielfalt also gar nicht hoch genug einschätzen.
Noch einmal die Frage: Braucht es wirklich jede Art? Oder könnten wir auch mit weniger Arten auskommen?
Wir wissen nicht genau, welche Arten wir brauchen, aber wir wissen, dass viele gut sind. Je mehr Arten, desto stabiler sind die Systeme. Das gilt gerade in Zeiten des Klimawandels, weil die Natur dadurch anpassungsfähiger ist. Wenn eine Art zum Beispiel mit größerer Trockenheit nicht auskommt, kann es vielleicht eine andere. Biodiversität ist gewissermaßen eine Lebensversicherung für uns Menschen; sie sichert uns ab bei Wechselfällen und Veränderungen.
Gibt es Beispiele, die das illustrieren könnten?
Mein Garten zeigt das sehr schön: Wir haben vor ein paar Jahren zwei Drittel davon zu einer Wiese umgewandelt. Obwohl die letzten Sommer unheimlich trocken waren, mussten wir sie nicht gießen. Den Rasen daneben haben wir auch nicht gegossen – mit dem Ergebnis, dass er abgestorben ist. Eine Wiese mit 20 bis 30 Arten ist viel widerstandsfähiger, weil es immer Arten gibt, die mit der jeweiligen Situation zurechtkommen. So ähnlich verhält es sich mit der Biodiversität weltweit. Wir brauchen viel.
Gibt es Arten, die wichtiger sind als andere, die einen größeren Beitrag zum Ganzen leisten?
Es gibt Schlüsselarten, die definitiv wichtiger sind als andere. In den Tropen zum Beispiel werden über 90 Prozent aller Baumarten von Tieren ausgebreitet und dabei wiederum im Wesentlichen von Vögeln. Unter ihnen finden sich ein paar große Vogelarten mit riesigen Schnäbeln, die auch lange Distanzen fliegen können, wie Nashornvögel oder Tukane. Sie sind entscheidend als Samenausbreiter und Gärtner des Waldes und gelten deshalb als Schlüsselarten.
Risiko Wildtiermarkt
SARS und Covid-19 sind nicht die einzigen Erkrankungen, die auf Tiere zurückgeführt werden. Ebola-Epidemien in Afrika werden ebenfalls mit Wildtierhandel in Verbindung gebracht. China hat Wildtiermärkte nach dem Ausbruch des Coronavirus in Wuhan vorübergehend verboten. Mehr als 200 NGOs haben in einem offenen Brief an die WHO gefordert, Wildtiermärkte weltweit zu verbieten. Auch die UNO sprach sich Anfang April 2020 für diese Maßnahme aus.
Dann wären im Umkehrschluss die weniger wichtigen Arten vielleicht doch verzichtbar …
Vielleicht. Das Problem ist nur, dass wir nie vorhersagen können, was passiert, wenn scheinbar weniger wichtige Arten verschwinden. Wir übersehen die Folgen nicht, weil wir ihre Dienstleistungen manchmal gar nicht erkennen oder das Wechselspiel mit anderen Arten noch nicht genügend untersucht haben. Auch deshalb ist es so wichtig, die Vielfalt zu erhalten.
Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, was passiert, wenn Arten fehlen?
In Kenia sind wir dieser Frage nachgegangen. Wir haben verschiedene Waldstücke untersucht. Die einen waren durch den Menschen gestört, zum Beispiel durch illegalen Holzeinschlag. Die anderen standen unter Schutz und waren intakt. Auf den ersten Flächen gab es circa 30 Prozent weniger Früchte fressende Vögel, vor allem weniger seltene Spezialisten. Man könnte denken, macht nichts, der Rest wird das schon ausgleichen. Wir haben aber festgestellt, dass sich dort die Samen signifikant schlechter ausbreiteten und sich die Bäume deutlich schlechter regenerierten. Das Ergebnis hat uns in dieser Klarheit verblüfft. Und lässt nur einen Schluss zu: Wir können auf keine Art verzichten.
Wie viele Arten gibt es überhaupt? Weiß man das?
Schwer zu sagen. Wir haben die Natur noch längst nicht systematisch erfasst. Bei den Vögeln wissen wir relativ gut Bescheid, bei den Säugern und Amphibien auch. Bei Reptilien wird es schon schwieriger, erst recht bei den Bäumen. Und wenn es zu den Insekten geht, hört unser Wissen ganz schnell auf. Der Weltbiodiversitätsrat hat in seinem jüngsten Bericht vergangenes Jahr acht Millionen Arten als wahrscheinlichste Hochrechnung angegeben.
In diesem Bericht hat der Rat zudem auf einen dramatischen Verlust von Biodiversität hingewiesen. Etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Halten Sie diese Vorhersage für realistisch?
Absolut. Das ist der Stand des Wissens, zu dem auch Senckenberg beigetragen hat. Ich stehe 100 Prozent hinter diesen Ergebnissen. Die Lage ist dramatisch. Ich erinnere nur an das Insekten- und Vogelsterben, das auch in Deutschland Schlagzeilen gemacht hat. Wir müssen unbedingt gegensteuern, sonst hat das drastische Folgen für unsere Nahrungsmittel, unser Trinkwasser und all die anderen Dienstleistungen der Natur, von denen ich bereits gesprochen habe. Die Sache ist ganz einfach: Der Mensch braucht die Natur – und nicht umgekehrt.
Was sind die größten Treiber des Artenverlustes?
Der Hauptgrund liegt in der veränderten Landnutzung, also im Abholzen von Wäldern und in einer sehr intensiven Landwirtschaft, die immer mehr auf Produktivität setzt. Als zweitwichtigster Faktor folgt die Ausbeutung: Wir fangen zu viele Fische, essen zu viele Tiere etc. Und an dritter Stelle steht der Klimawandel, der künftig noch eine sehr viel größere Rolle hier spielen wird.
Wie könnten, wie müssten wir dem Schwund entgegenwirken?
Wir bräuchten auf jeden Fall eine naturnähere Landwirtschaft, die den Eingriff in die natürlichen Wechselbeziehungen minimiert. Dazu gehört zum Beispiel, weniger Pflanzenschutzmittel und Dünger einzusetzen und Randstrukturen wie Hecken, Blühstreifen oder Brachen zu erhalten oder wieder anzulegen.
Ließe sich damit auch eine wachsende Weltbevölkerung ernähren?
Die Erträge sind bei ökologischer Landwirtschaft im Durchschnitt 20 bis 30 Prozent geringer, das ist richtig. Auf der anderen Seite verlieren wir mehr als 30 Prozent der Agrarprodukte vom Acker bis zum Teller, besonders weil wir als Verbraucher zu viele Lebensmittel wegwerfen. Wir bräuchten auch sehr viel weniger Anbaufläche, wenn wir uns fleischarm ernährten. Das Verhältnis von Rindfleisch zu Kartoffel zum Beispiel ist etwa 40:1. Das heißt, wir könnten die Verluste durch das Drehen an anderen Schrauben des Systems ausgleichen und trotzdem alle Menschen ernähren.
Das bedeutet, wenn ich weniger Fleisch esse, nützt das nicht nur dem Klima, sondern auch der Artenvielfalt?
Ja unbedingt, das hilft der Artenvielfalt, allerdings mit kleinen Ausnahmen: In Deutschland verschwinden die artenreichen Wiesen besonders stark. Und die werden nur durch Weidehaltung von Rindern und Schafen erhalten. Deshalb lautet mein Plädoyer: Generell wenig Fleisch essen, aber wenn, dann einen Braten vom Weideschaf oder Weiderind genießen. Das wäre ideal für die Biodiversität.
Was ist das größere Problem: der Klimawandel oder der Artenverlust?
Artenverlust ist mindestens so schlimm wie Klimawandel; sie sind zwei Facetten desselben Phänomens: Der Mensch übernutzt die Natur. Nur liegt die Aufmerksamkeit bisher stärker auf dem Klimawandel.
Wir wissen, dass der Klimawandel Einfluss auf das Fortbestehen der Arten hat. Gilt das auch umgekehrt? Kann der Artenschwund den Klimawandel beschleunigen?
An einzelnen Arten lässt sich das nicht festmachen, aber an ganzen Lebensräumen. Wenn wir Wälder verlieren, hat das Einfluss auf das Klima, und zwar nicht nur, weil Bäume CO₂ binden. Am Kilimandscharo zum Beispiel ist der Anteil der Waldfläche spürbar zurückgegangen. Dadurch hat die Wasserversorgung im Tiefland abgenommen. Der Berg arbeitet mit seinem Regenwaldgürtel wie ein riesiger Wasserspeicher. Wird Wald abgeholzt, ändern sich die klimatischen Bedingungen in der ganzen Gegend.
Welche Maßnahmen muss die internationale Staatengemeinschaft ergreifen, um den Artenschwund zu stoppen oder vielleicht sogar umzukehren?
Ich halte es für sehr sinnvoll, den Anteil an Schutzflächen zu erhöhen: Das 30:30-Ziel ist aus wissenschaftlicher Sicht ein richtiges. Es sieht vor, 30 Prozent der Erdoberfläche bis zum Jahr 2030 unter Schutz zu stellen. Derzeit stehen wir bei rund 15 Prozent an Land und acht Prozent bei den Meeren. Dass sich die Erde erholen kann, wenn wir ihr ein bisschen Ruhe gönnen, zeigt sich in Zeiten des Corona-Lockdowns eindrücklich. Man sieht wieder Fische in Venedigs klareren Kanälen, Delfine erobern den Bosporus zurück, Schildkröten bevölkern Strände. Schutzzonen schützen tatsächlich, vorausgesetzt, sie sind nicht nur reine „Paper Parks“, also nur auf dem Papier vorhanden. Wenn wir dann noch Zug um Zug von der intensiven Landwirtschaft wegkommen, haben wir viel erreicht. Da ist in Europa natürlich besonders die EU mit ihrer Gemeinsamen Agrarpolitik gefordert.
Eigentlich sollte im Oktober die nächste Biodiversitätskonferenz in China stattfinden. Dort wollte sich die Staatengemeinschaft neue, ehrgeizigere Ziele zum Artenschutz setzen. Nun ist die Konferenz wegen Corona erst einmal verschoben. Halten Sie den Zeitverzug für bedenklich?
Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass die Konferenz im Oktober wie geplant stattfinden kann und wir schnell zu greifbaren Ergebnissen kommen. Andererseits sehe ich durch Corona auch Chancen, so schlimm die Pandemie insgesamt für die Welt sein mag. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie schwierig es ist, Strukturen hinter sich zu lassen und Wirtschaftssysteme in Richtung Nachhaltigkeit umzubauen. Jetzt aber erleben wir durch Corona eine unfreiwillige Zäsur – und haben damit die Möglichkeit, tiefgreifende Veränderungen anzustoßen.
In welcher Form?
Die Konjunkturprogramme, die nach dem Ende der Pandemie kommen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, sollten starke Impulse für eine „Green Economy“ setzen. Wir sollten diese einmalige Gelegenheit nutzen, unser Wirtschaftssystem weiterzuentwickeln und die soziale in eine sozial-ökologische Marktwirtschaft umzuwandeln. Die KfW kann hier übrigens eine wichtige und konstruktive Rolle spielen.
Meinen Sie nicht, dass eher das Gegenteil geschehen wird, weil man die Wirtschaft nach dem Ende der Pandemie ganz schnell wieder flottkriegen möchte?
Ich bin Optimistin. Ich hoffe, dass uns die Krise zum Innehalten und zum Umdenken anregt und am Ende zu mehr Klima- und Artenschutz führt.
Auf KfW Stories veröffentlicht am 12. Mai 2020, aktualisiert am 22. April 2023.
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