Landschaftsaufnahe vom Amazonas Regenwald
Biodiversität

Biodiversität

„Wir brauchen Persönlichkeiten und ein Narrativ“

Der Verlust an biologischer Artenvielfalt gehört zu den gravierendsten Herausforderungen, denen sich die Welt derzeit zu stellen hat. Dennoch steht das Thema vielfach weder in der Politik ganz oben auf der Agenda, noch ist es vollständig im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Sylvie Goulard, ehemalige Ministerin und Vizepräsidentin der Banque de France, spricht über die ökonomischen Risiken im Zusammenhang mit Umweltschäden und erklärt, warum sich die Krise allein mit grünen Anleihen nicht bewältigen lässt.

Zur Person
Portrait von Sylvie Goulard

Finanzwirtschaft und Biodiversität im Blick

Sylvie Goulard ist stellvertretende Präsidentin der Banque de France, davor saß sie viele Jahre im Europäischen Parlament und war als Verteidigungsministerin Mitglied der Regierung Emmanuel Macrons. Die französische Zentralbank hat im vergangenen eine weit beachtete Studie zu Biodiversität herausgebracht: Demnach sind 42 Prozent der Anlagen französischer Finanzinstitutionen stark oder sehr stark von einer intakten Natur abhängig. Was das für die Zukunft Frankreichs und das Finanzwesen heißt, darüber sprach Sylvie Goulard bei einem Besuch in der KfW im Oktober. Sie nahm am Development Finance Forum 2022 als Gastrednerin teil und traf diverse KfW-Repräsentant*innen, darunter auch Vorstandsmitglied Christiane Laibach.

Diese beiden Krisen sind miteinander verwoben. Warum sind wir bei der Klimafrage so viel weiter als beim Thema der Artenvielfalt, wo doch auf der Hand liegt, dass der Menschheit hier genauso ernste Gefahren drohen wie beim Anstieg der Temperaturen?

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich mir wünschte, wir wären im Kampf gegen den Klimawandel schon viel weiter. Wir haben ein Abkommen, ja. Aber Zusagen und Verpflichtungen sind nur das eine, etwas ganz anderes ist deren tatsächliche Umsetzung. Ich sage nicht, dass nichts geschieht, aber wir sollten mehr tun und schneller vorankommen.

Wir befinden uns inmitten verschiedener, einander überlagender Krisen, wobei der Krieg in der Ukraine ein sehr gravierender Faktor ist. Steht zu befürchten, dass sich die Welt vom Kampf gegen den Klimawandel und das Artensterben abwendet?

Die russische Aggression ist in der Tat eine sehr schlechte Nachricht, zunächst natürlich für die ukrainische Bevölkerung, aber auch für das Funktionieren des multilateralen Systems, insofern als der Krieg uns allen viel Aufmerksamkeit und Geld abverlangt. Sie ebnet zudem den Weg für die Rückkehr von Kohle und die Wiederinbetriebnahme von Kraftwerken. Das sind negative Entwicklungen, die wir gerade beobachten. Auf der anderen Seite und auf längere Sicht könnte dieser Krieg allerdings auch als Triebfeder für den Übergang zu einer weitaus nachhaltigeren Energienutzung wirken. Für mich zeichnet sich also ein gemischtes Bild, und der Ausgang ist noch ungewiss. Allerdings besteht definitiv die Gefahr, dass wir den Klimawandel und den Biodiversitätsverlust nicht mit der nötigen Entschlossenheit angehen.

Heißt das, wir müssen erst das Ende des Ukraine-Krieges abwarten, bevor wir uns wieder mit diesen beiden Themen befassen können?

Nein, das sollte nicht passieren. Denn der Krieg könnte bald zu Ende sein, sich aber genauso gut in die Länge ziehen oder zum Dauerzustand werden. Niemand kann das vorhersagen. Deshalb sollten wir hier nicht einen bestimmten Ausgang abwarten, um uns weiter mit den Fragen des Klimas und der biologischen Artenvielfalt zu befassen.

Eisberge in der Arktis
Die Arktis

Kein Ort auf der Erde ist so stark vom Klimawandel betroffen wie die Arktis. Das führt zu gravierenden Veränderungen des Ökosystems.

Aber ist das Bewusstsein für die Risiken, die mit dem Klimawandel verbunden sind, nicht viel stärker ausgeprägt als hinsichtlich der Gefahren, die aus dem Naturschwund resultieren?

Das ist richtig – und dafür gibt es mehrere Gründe: Das Themenfeld der biologischen Artenvielfalt ist komplexer, und es sind sehr unterschiedliche Ökosysteme zu berücksichtigen. Korallenriffe sind nicht vergleichbar mit Inseln der Arktis, Regenwälder nicht mit Savannen. Es handelt sich um einen Flickenteppich von Problemen, die man kombinieren und verstehen muss. Direkt damit zusammen hängt auch der zweite Grund, dass nämlich keine einfachen Messgrößen existieren, auf die sich Verantwortliche in der Wirtschafts- und Finanzwelt stützen könnten. Wir wissen noch nicht, wie wir die vorhandenen Daten und Messgrößen, die die Wissenschaft zum Biodiversitätsverlust oder zum Schutz der biologischen Artenvielfalt zu Tage gebracht hat, in relevante Informationsgrundlagen für Wirtschaft und Finanzwelt umsetzen können. All dies bedeutet nicht, dass wir untätig bleiben sollten, vielmehr besteht dringender Handlungsbedarf. Aber es ist eine Erklärung, warum wir hier hinterherhinken.

Brauchen wir bessere Geschichten, bessere Narrative, um mehr Bewusstsein zu schaffen?

Ja, auf jeden Fall, wir brauchen die richtigen Narrative und die richtigen Menschen, die sie vermitteln. Es braucht Menschen, die mit ihrem Herzen sprechen und andere davon überzeugen, dass wir jetzt wirklich Tempo machen müssen. Beim Thema Biodiversitätsverlust sind wir noch nicht an diesem Punkt. Da ist keine „ Fridays-for-Future“-Bewegung, die auf die Straße geht und fordert, die Zerstörung der Natur zu stoppen. Auf einer anderen Ebene erinnere ich mich an eine Rede von Mark Carney, dem ehemaligen Gouverneur der Bank of England, im Jahr 2015, kurz vor Abschluss des Pariser Abkommens. Sein Beitrag stach wirklich hervor: Der Inhalt war richtig, das Narrativ war richtig und die Sprache war überzeugend. Ja, davon brauchen wir jetzt mehr in Bezug auf die Frage der biologischen Artenvielfalt.

In einem Bericht der französischen Zentralbank mit dem Titel „Ein ‚stiller Frühling‘ für das Finanzsystem?“ haben Sie die Bedeutung der Natur für Frankreich gemessen. Was waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ergebnisse dieses Berichts?

Wir waren uns darüber im Klaren, dass die Methodik kritisiert werden könnte, dennoch haben wir die Studie durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen: Rund 42 % des Marktwerts der von französischen Finanzinstituten gehaltenen Wertpapiere entfallen auf Emittenten mit hochgradiger Abhängigkeit von mindestens einer Ökosystemleistung. Demzufolge wird fast die Hälfte der französischen Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen, wenn der Naturschwund in dem beispiellosen Tempo der letzten Jahre voranschreitet. Eine weitere Erkenntnis lautet, dass das Portfolio französischer Finanzinstitute eine Auswirkung auf die terrestrische Biodiversität hat, nämlich in Form einer Bodenversiegelung, deren Ausmaß der 48-fachen Fläche von Paris entspricht – und zwar jährlich. All dies zeigt deutlich die schwerwiegenden Risiken im Zusammenhang mit dem Verlust an biologischer Artenvielfalt. Es gibt Studien in einer Reihe anderer Länder wie den Niederlanden, Malaysia, Brasilien und Mexiko, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen.

Zwei Windräder im Sonnenuntergang
Erneuerbare Energien

Green Bonds können einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung von nachhaltigen Umwelt- und Klimaschutzprojekten leisten.

Hat diese Studie das Bewusstsein in Frankreich geschärft?

Ja, natürlich. Die Privatwirtschaft zeigte großes Interesse an den Ergebnissen. Auch Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank, nahm darauf Bezug, zum Beispiel auf dem IUCN-Kongress in Marseille im September 2021.

Sie haben über den Finanzsektor gesprochen und darüber, dass er grüner werden muss. Wo stehen wir hier?

Lassen Sie mich zunächst sagen, dass die Emission von Green Bonds nicht der beste Indikator ist, auch wenn hier in den letzten Jahren eine exponentielle Zunahme stattgefunden hat. Ihre Ausweitung ist wichtig und beeindruckend. Diese Anleihen stellen aber nach wie vor nur eine kleine Nische dar. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, die für CO₂-Ausstoß und Umweltverschmutzung verantwortliche Wirtschaft in eine klima- und naturneutrale Wirtschaft zu verwandeln. „Positiv“ anstatt „neutral“ wäre noch besser. Der springende Punkt ist das Ausmaß der Veränderung insgesamt. Obwohl sich ein zunehmendes Bewusstsein in der Finanzwelt abzeichnet, bleibt noch viel zu tun.

Wie kann dies Ihrer Meinung nach zügig geschehen?

Eine sehr wichtige Maßnahme ist in diesem Zusammenhang die Offenlegung von Naturrisiken. Die Taskforce on Nature-Related Financial Disclosures (TNFD) arbeitet an einem Rahmenkonzept für die Berichterstattung über solche Risiken. Frankreich hat sich von Anfang an daran beteiligt. Dieser Rahmen wird es Unternehmen und Finanzinstituten ermöglichen, die Natur in Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen. Auf diese Weise können Unternehmen verglichen werden. Es wird nachvollziehbar, was sie wirklich tun, über Ankündigungen und Versprechungen hinaus. Aber noch sind wir nicht so weit. Das Rahmenwerk sollte bis Ende nächsten Jahres fertig sein.

Unterwasseraufnahme von zwei Halsband-Anemonenfischen
Korallenriffe

Das Ökosystem Meer steht unter enormem Druck. Sei es wegen Überfischung, Schiffsverkehr, Verschmutzung, Tiefseebergbau oder aufgrund des Klimawandels.

Und wie geht es weiter, wenn das Rahmenkonzept erst einmal veröffentlicht ist? Was sind die nächsten Schritte?

Dann muss dieser Rahmen an politische Entscheidungsgremien weitergeleitet werden, zunächst auf europäischer und schließlich auf weltweiter Ebene. Erst dann kann er die nötige Wirkung entfalten. Idealerweise müssen eines Tages alle Unternehmen über ihre naturbezogenen Risiken berichten.

Ist das ein realistisches Szenario?

Diese Diskussionen sind zugegebenermaßen nicht einfach, da es keinen globalen Gesetzgeber gibt. Deshalb spielen Menschen, die sich in verschiedenen Rechtsprechungen für das Rahmenwerk einsetzen, eine wichtige Rolle. Aber wie gesagt: Die wichtigste Aufgabe besteht im Moment darin, das Problembewusstsein zu steigern. Dann werden die Unternehmen aufspringen, da sie erkennen werden, dass es in ihrem Interesse liegt, diese neue Entwicklung zu nutzen, weil sie einen Wettbewerbsvorteil darstellt.

Wie könnte dieser Vorteil aussehen? Zunächst einmal wird es ein kostenaufwändiges Unterfangen, naturpositiv zu werden ...

In Frankreich zum Beispiel haben wir bereits die Situation, dass junge Menschen nicht mehr für Unternehmen der „alten Schule“ arbeiten wollen – also solche, in denen Umweltfragen außen vor geblieben sind. Ein möglicher Vorteil ergibt sich also für die Personalanwerbung, auch für den Ruf des Unternehmens. Kunden könnten danach fragen. Es gibt viele Aspekte. Ich behaupte aber nicht, dass dieser Wandel einfach vonstattengehen wird. Worauf ich hinaus will ist, dass wir in diese Richtung drängen müssen. Denn so viel steht fest: ein „weiter so“ kann es nicht mehr geben.

Weltklimakonferenz in Scharm El-Scheich (COP27)

Im November 2022 treffen sich die Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention in Scharm El-Scheich zur Weltklimakonferenz, der COP (Conference of the Parties) 27. Die COP27 soll die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens weiter voranbringen. Denn die Weltgemeinschaft ist nicht auf Kurs, um ihr selbstgestecktes Ziel – die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad – zu erreichen.

COP27 in Scharm El-Scheich (in Englisch)

Was erwarten Sie vom Klima- sowie vom Biodiversitätsgipfel im November bzw. Dezember?

Ich nehme an den Verhandlungen nicht teil und kann daher nur allgemeine Bemerkungen machen. Was den Klimaschutz betrifft, so hoffe ich, dass die COP in Sharm-el-Sheikh echte Fortschritte bei der weiteren Umsetzung des Pariser Abkommens macht. In Glasgow haben die Mitgliedstaaten den Kohleausstieg beschlossen, jedoch ohne sich auf ein Datum festzulegen. Es wäre gut, wenn sie hier weitergehen würden. Und in Bezug auf die biologische Artenvielfalt hoffe ich, dass die Teilnehmer mit einer wirklich offenen Haltung nach Montreal kommen. Bisher steht in dem Schlussdokument noch vieles in Klammern. Es wäre wichtig, dass man diese offenen Punkte löst und zu Ergebnissen kommt, die mehr sind als Lippenbekenntnisse – denn die Zeit läuft uns davon. Wir befinden uns in einer sehr kritischen Phase.

Auf KfW Stories veröffentlicht am 8. November 2022.

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Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten im Jahr 2015 die Agenda 2030. Ihr Herzstück ist ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs). Unsere Welt soll sich in einen Ort verwandeln, an dem Menschen ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig in Frieden miteinander leben können.