Eine Vision für Europa - Essay von Alexander Marguier
Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Mehr Demokratie wagen

Der Brexit war ein Schock. Viele Bürger fragen sich, wie die Europäische Union attraktiver werden kann. Der Publizist Alexander Marguier formuliert mit einem persönlichen Denkanstoß seine Vision für Europa.

Der Autor
Alexander Marguier, Cicero

Alexander Marguier ist Chefredakteur des politischen Magazins „Cicero“. Der 48-jährige Volkswirt ist zugleich Geschäftsführer des Magazinverlags Res Publica und Autor mehrerer Bücher.

Als Chefredakteur und Magazinmacher bekommt man das europäische Problem in harter Währung zu spüren. Ein Beispiel: Im Mai 2014, also wenige Wochen vor der jüngsten Wahl zum Europaparlament, wollten wir der verbreiteten Europa-Verdrossenheit etwas entgegensetzen und hoben eine Geschichte auf die Titelseite, in der zehn namhafte Persönlichkeiten sehr engagiert und persönlich die wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union beschrieben. Dazu zählten Punkte wie „Frieden“, „Wohlstand“, „Demokratie“ oder „Rechtsstaatlichkeit“. Also wahrlich keine Petitessen, sondern – gerade angesichts der historischen Erfahrungen dieses Kontinents – echte Erfolge, die eigentlich jeden Bürger unmittelbar betreffen.

Das Ergebnis unserer Europa-Ausgabe indes war nicht nur ernüchternd, sondern ein regelrechtes Desaster: Die Zahl der am Kiosk verkauften Hefte lag mehr als 20 Prozent unter dem Durchschnittswert. Womit sich einmal mehr die Branchenweisheit bestätigte, dass sich mit dem Thema „Europa“ allenfalls dann Auflage machen lässt, wenn es um Pleiten, Pech und Pannen geht.

Für ein politisches Magazin wie Cicero mag das verkraftbar sein, es passieren ja noch viele andere berichtenswerte Dinge auf der Welt. Aber eine Institution wie die EU kann auf Dauer nicht überleben, wenn ihr die eigenen Bewohner größtenteils mit Desinteresse oder sogar mit offener Ablehnung gegenüberstehen.

Puzzle Europa
ÜBERFORDERT

Es ist nicht einfach nur ein Puzzleteil, das in Europa fehlt. Es sind zu viele offene Fragen, Teile passen nicht richtig zusammen, die Aufgabe ist zu komplex.

Das Problem

Natürlich bietet ein staatsübergreifendes Gebilde wie die Europäische Union weniger Identifikationsmöglichkeiten als eine Gemeinde, eine Stadt, eine vertraute Landschaft oder ein Heimatland. Das erklärt jedoch nicht, warum derart einfach Stimmung dagegen gemacht werden kann wie etwa bei der „Leave“-Kampagne vor dem Referendum über den Brexit.

Die Entscheidung der Briten, sich von der EU abzuwenden, mag zwar bei vielen Menschen in den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten einen heilsamen Schreck ausgelöst haben. Doch die eigentlichen Webfehler sind damit noch lange nicht behoben und könnten jederzeit zu erneuten Auflösungserscheinungen führen: Es geht um nicht weniger als um die Intransparenz der politischen Entscheidungsmechanismen, um ein Defizit an demokratischer Legitimation, um Ineffizienz bei den großen geostrategischen Herausforderungen, um mangelndes Verständnis für die unterschiedlichen Mentalitäten der Bürger in den einzelnen Mitgliedsländern. Und nicht zuletzt um das permanente Ausspielen nationaler Eigeninteressen gegen den Geist der Gemeinschaft. Solange jedenfalls Regierungschefs in ihren Herkunftsstaaten mit EU-Beschimpfung Wahlen gewinnen wollen, ist es schlecht bestellt um das europäische Projekt.

Nach meinem Dafürhalten ist die Welt in den vergangenen zehn Jahren alles andere als sicherer geworden, sind die politischen Entwicklungen im Allgemeinen heute schwerer zu berechnen: Die Vereinigten Staaten verabschieden sich von ihrer Rolle als globale Ordnungsmacht; Russland präsentiert sich als latent aggressives Gegenmodell zum sogenannten Westen; der Nato-Bündnispartner Türkei entwickelt sich in eine Autokratie, während die Staatenwelt des Nahen Ostens zerfällt und von dort sowie aus Afrika Migrationsströme ungeahnter Größe nach Europa drängen. Gleichzeitig wird China zu einem immer stärkeren Konkurrenten auch für wissensbasierte Hightech-Unternehmen europäischer Herkunft.

Das Ziel

Angesichts dieser Herausforderungen muss das vielbeschworene„gemeinsame europäische Haus“ nicht nur dringend wetterfest gemacht werden, sondern es benötigt ein neues und stabileres Fundament. Eine Europäische Union muss zuallererst ihre Effizienz unter Beweis stellen. Sonst droht sie den Rückhalt ihrer Bürger endgültig zu verlieren. Die EU muss sich auf ihre wichtigsten Aufgaben beschränken, für diese Aufgaben aber auch deutlich handlungsfähiger werden. Das wäre ein mutiger Schritt.

Das Subsidiaritätsprinzip ist hier von entscheidender Bedeutung und sollte endlich konsequent umgesetzt, anstatt nur in europapolitischen Sonntagsreden hochgehalten zu werden: Aufgaben, die zusammen besser gelöst werden können als auf nationaler Ebene, fallen in die Zuständigkeit der EU – alles andere ist Sache der Mitgliedstaaten.

Was in der Handelspolitik ja längst erreicht wurde, gehört deshalb dringend auch auf andere Bereiche ausgedehnt. Tatsächlich ist eine europäische Armee inzwischen kein Phantasma mehr, sondern das Zukunftsprojekt der Stunde. Ein gemeinsamer Schutz der europäischen Außengrenzen und eine einheitliche Asylpolitik müssen folgen, wenn der Migrations¬druck nicht zu weiteren Verwerfungen innerhalb der EU führen soll. Denn nur durch einheitliche Standards kann das unwürdige Spiel um die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Länder in Europa verhindert werden. Allein die Tatsache, dass das Thema Migration von den Brexit-Befürwortern erfolgreich instrumentalisiert wurde, macht dessen Sprengkraft deutlich. Es kann nur im europäischen Konsens entschärft werden.

In einer Demokratie setzt Konsens allerdings die Fähigkeit zum Kompromiss voraus. Und damit scheint es in einigen Bereichen nicht weit her zu sein – auch das zeigt sich eindrücklich am Beispiel der Flüchtlingskrise. Während etwa Deutschland auf eine quotierte Verteilung der Flüchtlinge auf die verschiedenen Mitgliedsländer der EU drängt, weigern sich insbesondere Staaten wie die Slowakei, Polen oder Ungarn mehr oder weniger kategorisch, Menschen namentlich aus dem islamischen Kulturkreis aufzunehmen. Man kann das bedauern oder gutheißen, aber die Positionen scheinen verhärtet zu sein und lassen nicht auf eine Einigung hoffen.

„Es soll nicht darum gehen, einen europäischen Superstaat zu propagieren.“

Alexander Marguier, Publizist und Chefredakteur des politischen Magazins „Cicero“

Puzzle Europa
Lösbar

Wenn die Europäische Union der Zukunft sich auf ihre wesentlichen Aufgaben fokussiert, wird sie ein Erfolgsmodell für Frieden und Wohlstand bleiben.

Der Weg

Moralische Appelle helfen an dieser Stelle nicht weiter; vielmehr gewinnen die Bürger Europas den Eindruck, die Bewältigung der Flüchtlingskrise scheitere an miteinander unvereinbaren nationalen Befindlichkeiten wie der deutschen Willkommenspolitik einerseits und einer rigorosen Abschottungshaltung in den östlichen EU-Ländern andererseits.

Dieses Problem wird aber nicht durch Machtworte und politische Drohungen gelöst werden können, sondern im Gegenteil: durch eine konsequente Anwendung demokratischer Grundprinzipien auch auf Ebene der Europäischen Union. Der Mangel an demokratischer Legitimität der EU ist ja tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Die europäischen Institutionen sind alles andere als ein perfektes Abbild des Bürgerwillens: Der Europäische Rat, in dem die jeweiligen Staats- und Regierungschefs sitzen, ist zwar innerhalb der EU das dominierende Gremium – aber dessen Vertreter sind aus nationalen Wahlen hervorgegangen und nicht etwa aus Europawahlen. Dementsprechend fühlen sich die Mitglieder im Rat vor allem den Partikularinteressen ihrer Heimatländer verpflichtet und weniger dem europäischen Großen und Ganzen.

Die Europäische Kommission wiederum ist ein seltsamer Hybrid aus Regierung und Kontrollinstanz über die Einhaltung der Europäischen Verträge; EU-Kommissare werden zwar vom Europäischen Parlament bestätigt, aber von den einzelnen Mitgliedstaaten nominiert.

Und das Europäische Parlament selbst ist „keine Volksvertretung wie das britische Unterhaus, der deutsche Bundestag oder die französische Nationalversammlung“, so der Historiker Heinrich August Winkler. Nicht nur kann es keine eigenen Gesetzesvorlagen einbringen, sondern es entspricht in seiner Zusammensetzung auch nicht dem Prinzip „one person one vote“: Kleine Staaten wie etwa Malta, Luxemburg oder Estland werden bei der Zuteilung von Mandaten bevorzugt, damit deren Kandidaten überhaupt im Europaparlament vertreten sein können. Kurzum: Die EU ist weit davon entfernt, ein demokratisches Vorzeigeprojekt zu sein.
In Anlehnung an Willy Brandt sollten die Europäer „mehr Demokratie wagen“, anstatt die EU einem schwer durchschaubaren und überbürokratisierten Geflecht von Institutionen mit teilweise einander widerstrebenden Interessen zu überlassen.

Dafür bräuchte es vor allem gesamteuropäische Parteien, die sich in allen EU-Ländern zur Wahl stellen – und zwar mit Spitzenkandidaten, die tatsächlich (und nicht nur pro forma) um das Amt des Kommissionspräsidenten konkurrieren. Wenn es also darum gehen sollte, einen „europäischen Bürgergeist“ zu entwickeln, dann wird das kaum nach der bisherigen Methode funktionieren, bei der sich die Vertreter nationaler Parteien im Europaparlament in oft sehr wackeligen „Parteienfamilien“ zusammenfinden.

Warum gibt es keine Partei der europäischen Sozialdemokraten oder der europäischen Konservativen? Warum sind die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament eigentlich so diffus? Und vor allem: Warum haben wir keine „echte“ EU-Regierung, die getragen wird von „echten“ Parteien mit „echten“ Mehrheiten in einem „echten“ europäischen Parlament, das aus „echten“ demokratischen Wahlen hervorgegangen ist? Mit anderen Worten: Warum traut sich die EU nicht zu, eine „echte“ Demokratie zu sein?

Die Dimension

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es soll nicht darum gehen, einen europäischen Superstaat zu propagieren. Die Zuständigkeit und damit die Gesetzgebungskompetenz eines demokratisch aufgewerteten Europaparlaments dürfte keineswegs in alle möglichen Regelungsbereiche ausufern. Im Gegenteil: Europas Abgeordnete sollten nur dort bestimmen dürfen, wo europaweite Gesetze sinnvoller sind als nationale Regelungen.

Also beispielsweise in Fragen des gemeinsamen Haushalts, beim Außenhandel oder was die Sicherung der EU-Außengrenzen betrifft. Und selbstverständlich auch in der Migrationspolitik, die schließlich alle Europäer angeht und deswegen nur europäisch gelöst werden kann. Themen wie Bildung, Polizei, Gesundheitspolitik oder Rente dagegen bleiben den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen.

Nationalismus, raus aus der EU, weniger Demokratie: So lauten populistische Forderungen im Zeitalter der Unübersichtlichkeit. Dabei wäre gerade heute das exakte Gegenteil angebracht: mehr Kompetenz für die EU – aber eben nur dort, wo europäische Probleme zweifelsfrei europäischer Lösungen bedürfen. Mehr Demokratie mit einem Europäischen Parlament, das diesen Namen auch wirklich verdient. Gesamteuropäische Parteien. Und ein Kommissionspräsident, der vom Europaparlament gewählt wird.

Ganz nebenbei: Eine transparente, nachvollziehbare und vor allem demokratisch einwandfreie Gemeinschaftspolitik würde auch das Interesse der Bürger an „ihrer“ EU verändern. Und zwar so, dass Magazinmacher nicht mehr das Schlimmste befürchten müssten, wenn sie Europa zur Titelgeschichte machen.

Auf KfW Stories veröffentlicht am: Mittwoch, 6. Dezember 2017