Illustration eines Bootes voller Menschen, die an einer Küste anlanden
Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Wie wir Fluchtursachen bekämpfen können

Krieg, Verfolgung und mangelnde wirtschaftliche Perspektiven lassen Menschen nach Europa fliehen. Dagegen helfen neue Grenzzäune auf Dauer nicht. Die Ursachen von Flucht müssen bekämpft werden. Wie, das erläutern fünf Experten exklusiv auf KfW Stories.

Illustration von Klaus Töpfer, Windrädern und Schulkindern
Klaus Töpfer

Der Nachhaltigkeitsexperte war Bundesumweltminister in einem schwarz-gelben Kabinett und Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms (UNEP) in Nairobi. Zuletzt leitete er das Nachhaltigkeitsinstitut IASS in Potsdam.

Solidarisch mit dem Süden handeln

KLAUS TÖPFER Die weltweiten Flüchtlingsströme sind Beleg dafür, dass „nachhaltige Entwicklung” der neue Begriff für Frieden ist. Alle Maßnahmen für wirtschaftliche Entwicklung und Überwindung von existenzieller Armut müssen so gestaltet sein, dass sie nicht auf Kosten der gesellschaftlichen Stabilität und der Leistungsfähigkeit der Natur gehen.

Denn Wohlstand, der die Zerstörung der Umwelt in Kauf nimmt, ist kein wirklicher Wohlstand, sondern bestenfalls eine kurzfristige Milderung der Tragödie, wie der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan feststellte. Annan hat recht: „Es wird kaum Frieden, wohl aber noch mehr Armut geben, falls dieser Angriff auf die Natur anhält.“

Der Kampf gegen Fluchtursachen muss also verbunden werden mit Maßnahmen in den Industrieländern gegen die Abwälzung von Kosten des eigenen Wohlstands auf kommende Generationen und die Natur. Das gilt für eine Klimapolitik, die eine CO₂-neutrale Wirtschaft und Gesellschaft bis zur Mitte dieses Jahrhunderts realisiert. Das gilt für einen Lebensstil, der nicht mehr so energie- und ressourcenintensiv ist. Es gilt für die Agrarwirtschaft in Entwicklungsländern, die nicht durch hoch subventionierte Importe aus den entwickelten Ländern um ihre Zukunftsperspektive gebracht wird.

Die Fluchtursachen müssen zudem durch vorausschauende Diplomatie, durch den Aufbau von verlässlichen Staatsstrukturen, vor allem aber durch massive Investitionen in Bildung und Ausbildung beseitigt werden. Damit bietet sich gerade auch Deutschland eine große Chance für eine vorsorgende Friedenspolitik – durch das Handeln im eigenen Land sowie durch die solidarische Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern und durch das Angebot, umwelt- und sozialverträgliche Technologien zu schaffen.

Illustration von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Arzt mit Kind auf dem Arm und zwei Flaschen
Ernst Ulrich von Weizsäcker

Der Co-Präsident des Thinktanks Club of Rome ist Physiker und Biologe. Er war Gründungspräsident der Universität Kassel und des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie sowie SPD-Bundestagsabgeordneter.

Bevölkerungszahlen stabilisieren

ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER Woher kommen die meisten Flüchtlinge? Aus Ländern, in denen die Trockenheit durch den Klimawandel zunimmt, in denen die Regierungen mit der Unzufriedenheit des Volkes nicht mehr fertigwerden und in denen noch praktisch kein Ansatz zur Stabilisierung der Bevölkerungszahl besteht. Lange Zeit konnten viele dieser Länder durch den Verkauf von Erdöl und anderen Gütern kompensieren, was die Böden nicht mehr hergaben. Das hat auch politisch stabilisierend gewirkt.

Doch die Zeit des teuren Öls ist erst mal vorbei. Was können die Länder tun? Ich beleuchte zuerst die ökologische Frage. Ziel muss eine nachhaltige Versorgung mit Wasser, Energie, Nähr- und Rohstoffen sein. Dies ist mit modernen Technologien möglich. Wasser ist in den betroffenen Ländern knapp. Es muss nach der Nutzung so gut wie in Deutschland gereinigt und aufbereitet werden. Die Landwirtschaft gehört auf die sparsame, aber effektive Tröpfchenbewässerung umgestellt. Nährstoffe, Metalle und Kunststoffe müssen im Kreislauf geführt werden. Und die Solarenergie muss in großen Kraftwerken, aber auch dezentral genutzt werden, um die Energiearmut zu beheben. Die Bedrohung durch IS und Al-Kaida erschwert die Umsetzung dieser Ziele, doch sie müssen dringend weiterverfolgt werden.

Nicht auf der Tagesordnung, aber umso dringlicher ist die Stabilisierung der Bevölkerungszahl. Bekanntlich helfen Frauenemanzipation, Kleinkindkliniken und ein Rentensystem, auf das sich Familien verlassen können. Dann schwindet die Idee in den Familien, dass viele Kinder die beste Alterssicherung sind. Stabile Bevölkerungszahlen stabilisieren auch die Politik. Der „Überschuss” an jungen Männern ist explosiv, zumal wenn diese meist arbeitslos sind. Und viele von ihnen werden zu Flüchtlingen.

Illustration von Heinrich Bedford-Strohm, Kruzifix und Moschee
Heinrich Bedford-Strohm

Der Ratsvorsitzende der EKD ist zugleich Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Honorarprofessor für Systematische Theologie und Theologische Gegenwartsfragen an der Universität Bamberg.

Dialog zwischen Religionen verbessern

HEINRICH BEDFORD-STROHM Religion hat Kraft. Es tut gut, zum Beispiel in den biblischen Berichten von Jesu Tod und Auferstehung eine religiöse Sprach- und Bildwelt für die Bewältigung von Trauer und Schmerz zu haben, erfahren zu können, dass der Tod nicht das letzte Wort behält. Und doch nehmen heute längst nicht mehr alle Religion als ausschließlich positive Kraft wahr. Sie verweisen auf weltweit zu allen Zeiten aufkeimende Konflikte zwischen Religionen. Auf der Suche nach Wegen zur Beseitigung von Fluchtursachen stellt sich für sie zuallererst die Frage, wie Religionen friedlich zusammenleben können.

Ich gebe zu, dass mir diese Zuspitzung nicht gefällt, geht sie doch unausgesprochen davon aus, dass für den Unfrieden in der Welt maßgeblich die Religionen verantwortlich zu machen seien. Diese Analyse ist mindestens ebenso zu kurz gegriffen wie jede andere monokausale Zuschreibung. Liegen doch nahezu jedem „religiösen” Konflikt auch soziale Ursachen zugrunde.

Dennoch ist interreligiöser Dialog unbestreitbar ein wichtiger Baustein für ein friedliches Zusammenleben. Dabei müssen wir zuallererst wahrnehmen, dass sich Religionen und ihre unterschiedlichen Gottesvorstellungen nicht einfach harmonisieren lassen. Dass Gott in einem Gekreuzigten auf Erden sichtbar wird, ist eine Auffassung, die für Muslime völlig inakzeptabel ist.

Differenzen zwischen den Religionen müssen also anerkannt und ausgesprochen werden. Nicht um eine Einebnung der Unterschiede kann es gehen, sondern um einen Umgang mit diesen Unterschieden, der nicht von Abwertung, sondern von wechselseitigem Hinhören geprägt ist. Wo auf der Basis eines solchen wertschätzenden Umgangs Vertrauen wächst, können Religionen gemeinsam entfalten, was sie ursprünglich ausmacht: ihre auf Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe gegründete Friedenskraft.

Illustration von Bärbel Dieckmann, Traktor und zwei Rinder
Bärbel Dieckmann

Die Präsidentin der Welthungerhilfe war 1994 bis 2009 Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn sowie Mitglied im SPD-Parteivorstand. Sie sitzt im Kuratorium der Stiftung Entwicklung und Frieden.

Rechte der Kleinbauern stärken

BÄRBEL DIECKMANN Weltweit hungern 795 Millionen Menschen. Nicht alle von ihnen verlassen ihre Heimat, aber mangelnde Ernährungssicherheit für die Familien ist im Zusammenspiel mit Krieg, Gewalt oder Verfolgung ein Fluchtgrund. Die Bekämpfung des Hungers steht für die Welthungerhilfe daher im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Aus unserer Projekterfahrung wissen wir, dass nur die Schaffung konkreter Perspektiven vor Ort und die damit verbundene Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen die Menschen in ihrer Heimat halten wird.

Zwei von drei Hungernden leben auf dem Land und so muss die Unterstützung von Kleinbauern oberste Priorität haben. Diese Frauen und Männer tun ihr Bestes, um ihre Familien zu ernähren und Geld zu verdienen. Oftmals fehlt es an einfachen Dingen, um täglich genügend essen zu können und ein kleines Einkommen zu erzielen. Besseres Saatgut, Impfungen für die Tiere, neue Bewässerungssysteme für die Felder – all dies kann die Lebensbedingungen langfristig verbessern. Durch Fortbildungen lassen sich die Erträge für jedes Feld steigern und in Trainingskursen können erfolgreiche Vermarktungsstrategien erlernt werden. Dabei ist es wichtig, auch die lokalen Kenntnisse einzubinden.

Gezielte Fördermaßnahmen für den ländlichen Raum bilden die Grundlage dafür, dass Familien in ihren Dörfern eine Chance bekommen, ihr Leben selbstbestimmt und in Würde zu leben. Dies ist die Voraussetzung dafür, zu bleiben und sich nicht auf die Suche nach einem besseren Leben in der Ferne zu machen.

Die internationale Politik muss dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehören Investitionen in ländliche Entwicklung, eine faire Handelspolitik und eine gerechte Landverteilung. Bei Letzterem stehen die Länder des Südens selbst in der Pflicht, die Landrechte der Kleinbauern zu stärken und den Aufbau von lokalen Wirtschaftskreisen voranzutreiben.

Illustration von Harald Welzer, Geldscheinen und Ölfässern
Harald Welzer

Der Sozialpsychologe und Soziologe ist Professor an der Universität Flensburg. Er ist Mitbegründer und Direktor der Stiftung Futurzwei. Zu seinen Bestsellern zählen „Täter”,„Klimakriege” und „Selbst denken”.

Globale Verteilung infrage stellen

HARALD WELZER Die wachsenden Flüchtlingszahlen, die seit dem Sommer 2015 die EU unter extreme Spannung setzen, legen offen, was ansonsten noch länger unsichtbar geblieben wäre: Die komplette fossile Energieversorgung der reichen Gesellschaften hängt von politisch völlig instabilen Ländern ab, in denen im Krisenfall Stellvertreterkriege geführt werden, die sich kaum oder gar nicht unter Kontrolle bringen lassen. In der politischen Debatte wird dann viel über „Fluchtursachen” gesprochen, dabei aber die Frage ausgespart, in der die Lebenslüge des gesamten Westens formuliert ist: „Wieso ist unser Öl unter deren Sand?“

Es wurde schlagartig sichtbar, dass die komfortable Inselexistenz der Industrieländer, die auf dem Import von Rohstoffen und dem Export von Folgeproblemen beruht, nur ungestört bleibt, solange die Kosten des Komforts nicht dort anfallen, wo sie verursacht werden. Vielleicht befinden wir uns nun an einer historischen Stelle, an der die Illusion einer globalen Wachstumswirtschaft, die zugleich ökologische und menschenrechtliche Ziele zu verfolgen vorgibt, sich endgültig als solche erweist.

Quelle
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Dieser Artikel ist erschienen in CHANCEN Frühjahr/Sommer 2016 „Wanderungen”.

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In dieser Situation müssen die Regierungen der Welt, die Unternehmen und die Zivilgesellschaft einen Pfadwechsel zur Nachhaltigkeit einleiten: Globale Verteilungsfragen dürfen endlich nicht mehr ausgeklammert werden, eine gute Regierungsführung in den potenziellen Fluchtländern muss durch echte Preise für Rohstoffe und Nahrungsmittel, durch Aufbau von Infrastrukturen und regionalen Wirtschaften unterstützt werden.

Die Alternative dazu ist moralisch höchst fragwürdig: eine Politik der Ausgrenzung und Abschottung, die auf die ökologischen und menschenrechtlichen Girlanden verzichtet, die sie ihrem wirtschaftlichen Paradigma bislang noch umzuhängen pflegte. Der Pfadwechsel muss konsequent umgesetzt werden. Alles andere ist langfristig nicht durchzuhalten.

Auf KfW Stories veröffentlicht am: Mittwoch, 19. April 2017