Visioverdis Pflanzen
Klimawandel

Klimawandel

Bäume, die aus Wänden wachsen

Begrünte Mauern zur Verbesserung des Stadtklimas sind nicht neu. Bäume, die zum gleichen Zweck in die Horizontale gehen, sehr wohl. Eine Biologin aus Stuttgart revolutioniert den Kampf gegen den Smog und hat ein smartes System entwickelt, das Bäumchen und Sträucher optimal an Wänden gedeihen lässt.

Video: Dr. Alina Schick erläutert ihre Idee, mit Pflanzen das Stadtklima zu verbessern (KfW Bankengruppe/n-tv).

Man muss wohl in Stuttgart leben – einer der Städte mit der schlimmsten Luft Deutschlands –, um auf eine solche Idee zu kommen. Wie wäre es, fragte sich Dr. Alina Schick, wenn nicht nur kleinere Pflanzen, sondern ganze Bäume die Fassaden unserer abgasbelasteten Innenstädte besiedelten? Wenn die Stämme und Kronen von Liguster und Kirschlorbeer quasi wie Stecknadeln in den Seiten unserer Häuser säßen? Als Gravitationsbiologin wusste Schick, dass diese für viele abstrus klingende Vision realisierbar ist. Denn Bäume können, so hatte sie herausgefunden, durchaus kerzengerade horizontal zur Seite wachsen – sofern man sie ständig dreht.

Längst hat der Praxistest gezeigt, dass man mit Alina Schicks Idee unsere Innenstädte zu besseren Orten machen kann. Ihre Firma Visioverdis begrünt inzwischen europaweit Fassaden vertikal mit Bäumen und Sträuchern. Das tut sie mithilfe des GraviPlants, eines von Geschäftsführerin Schick entwickelten Hightech-Pflanzenversorgungssystems. Die GraviPlants verändern mit permanenter Rotation um die horizontale Achse die Wahrnehmung der Pflanzen von Licht und Schwerkraft und lassen so Bäume zur Seite wachsen. Eine geniale Erfindung, für die das Unternehmen schon 2018, ein Jahr nach seiner Gründung, mit dem KfW Award Gründen ausgezeichnet wurde.

Eine innovative Art, Städte zu begrünen

Lösungen wie die von Alina Schick sind überlebenswichtig, denn der Klimawandel und seine Folgen sind eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Der zunehmende CO₂-Ausstoß und der Raubbau an den Wäldern sind nur zwei von unzähligen Faktoren, die uns immer mehr die Luft abdrehen. Hinzu kommt die stetig wachsende Weltbevölkerung. Megacitys entstehen, die Wohnraumverdichtung vernichtet die letzten innerstädtischen Grünflächen. Doch Grün in der Stadt ist eben nicht nur eine Frage der Ästhetik, sondern ein nicht zu unterschätzender Faktor des innerstädtischen Klimas. Mit GraviPlants will Dr. Alina Schick ihren Teil dazu beitragen, dass Städte trotz starker Bebauung ihre grünen Lungen nicht komplett einbüßen. Ebenso sieht die Gründerin in den GraviPlants aber auch eine repräsentative und ausgefallene Art, Natur ins urbane und moderne Leben zu integrieren. Ein Begrünen der sonst ungenutzten Fassaden mit einem System aus verschiedenen Pflanzenarten schwebt ihr vor, ganze vertikale Wälder, in denen die Stämme horizontal zur Seite wachsen. Und sie liefert dazu die Bäume. „Das ist nicht nur gut für unser Klima“, erklärt Schick. „Es sieht auch sehr schön aus und kann im frühen Stadium zudem werbewirksam eingesetzt werden.“

Lesen Sie unter der Bildergalerie weiter.

Die Idee, die hinter den GraviPlants steht, ist viel älter: Erste Drehversuche mit Pflanzen gab es bereits im 19. Jahrhundert. Der Botaniker Julius von Sachs drehte Sonnenblumen mithilfe eines Klinostaten, eines Apparats, der langsam um eine Achse rotiert. Der Ursprung von Schicks Rotationssystem kommt allerdings aus der Weltraumforschung. Experimente auf der ehemaligen russischen Raumstation MIR zeigten ihrem früheren Mentor, dem Biologen Prof. Dr. Dieter Volkmann, dass die fehlende Gravitation Pflanzenwurzeln anders wachsen lässt. Schick betrieb Volkmanns Forschung weiter. Ihr war jedoch schnell klar, dass sie nicht im dunklen Kämmerlein vor sich hin studieren wollte. Vielmehr war sie bestrebt, ihr erworbenes Wissen allen zugänglich und damit nutzbar zu machen. Nach ihrem Studium in Bonn und Australien und der Promotion in Stuttgart-Hohenheim blieb sie an der baden-württembergischen Universität im Rahmen der „Junge Innovatoren“-Förderung, nutzte die ihr bereitgestellten Möglichkeiten und gründete 2017 Visioverdis. Die GmbH hat heute fünf Mitarbeiter.

Eine ausgeklügelte Technologie

Seit 2009 dreht Dr. Alina Schick Bäume. Ihre Erkenntnis, dass Pflanzen, auch kleine Bäumchen, die kontinuierlich um ihre eigene Achse gedreht werden, horizontal wachsen, entwickelt die Gravitationsbiologin nun beständig weiter. Es gilt nicht nur, die dafür geeignetsten Pflanzen zu finden, sondern auch, das Hightechsystem stetig zu verbessern. Die Hochstämmchen sucht sich Schick gezielt nach gutem Wuchs aus und kultiviert sie sechs Wochen in ihrem neuen, rotierenden System. Sind die Auserwählten erst mal an der Fassade, müssen sie zweimal im Jahr beschnitten werden.

Dr. Alina Schick
„Die Fassade ist ein konkurrenzloser Raum, der keinen Stress für die Bäume bedeutet.“

Dr. Alina Schick, Gravitationsbiologin

Und wie genau funktioniert das Hightechsystem? Über Tablet, PC oder Smart-Home-Technik lassen sich Sensoren ansteuern, Drehgeschwindigkeit, Wasserzufuhr und der Strom für die LED-Beleuchtung regeln. So wird der Status überwacht und optimiert. „Die Sensoren sind mit einer eingebetteten Software verknüpft, die pflanzenspezifische Parameter bereithält“, erklärt Alina Schick. Auf Solarenergie verzichtet Visioverdis bei der Konzeption des Topfsystems bewusst und setzt auf herkömmliche Energie über Hausstrom. Der GraviPlant sei so niedrig im Verbrauch (acht Watt für den Antrieb und 2,5 Watt pro LED-Beleuchtung), dass die Herstellung von Solarenergie deutlich mehr kosten würde. Je nach Pflanzenart dreht sich das System mit weniger als kaum wahrnehmbaren 0,2 Umdrehungen pro Minute bis hin zu klar erkennbaren 1,6 Umdrehungen pro Minute. Seit Neuestem wird das System um einen Fünf-Liter-Bewässerungstank ergänzt, der bei etwaigem Stromausfall die Pflanze versorgt.

Mit horizontal wachsenden Bäumen revolutioniert eine Biologin aus Stuttgart den Kampf gegen innerstädtischen Smog

In Megacities ist es eng, Grund und Boden sind knapp. Doch an Hausfassaden können Bäume konkurrenzlos wachsen und so das Stadtklima verbessern.

Gebäudefassaden als konkurrenzlose Räume

Die Größe der Bäumchen liegt bei 140 Zentimetern, zuzüglich technischer Komponente wird ein Höchstabstand von zwei Metern zur Fassade erreicht. Damit ist „selbst beim in Deutschland schlimmsten zu erwartenden Orkan die Gebäudestatik nicht in Gefahr“, versichert Schick. Statt in die Länge zu wachsen, würden die Bäume eine besonders dichte und runde Laubkrone ausbilden. Interessant sei, dass die Pflanzen die jahreszeitlichen Fruchtabfolgen beibehalten. „Das zeigt, dass die Fassade ein konkurrenzloser Raum ist, der keinen Stress für die Pflanzen bedeutet, noch dazu werden sie liebevoll vom GraviPlant umsorgt.“

Der horizontal wachsende Baum bringt laut Schick nur Vorteile. Und die haben längst nicht nur mit der Verbesserung des Mikroklimas zu tun, indem Feinstaub, Stickoxide und Ozon gebunden werden. Dank der Perspektivenverschiebung würden die so seltsam begrünten Fassaden zu Hinguckern, so die Biologin. Zudem fungieren die Bäume als Schallschutz, und sie bieten sommerlichen Wärmeschutz sowie winterliche Wärmedämmung. Nicht zuletzt sei das Grün für Insekten und Vögel ein wertvoller Lebensraum und bringe dadurch die Natur zurück in die Städte.

Der älteste Ligusterhochstamm dreht sich bereits seit vier Jahren an der Uni Hohenheim, und in den Städten Europas nimmt die Idee ziemlich Fahrt auf: So wurden gerade in der Hannovergasse in Wien Ligusterstämmchen an einer Fassade angebracht. Europaweit bauen Dr. Schick und ihre Mitstreiter ein Vertriebsnetz auf, aktuell vor allem in Österreich, den Niederlanden und in Deutschland. Damit mitten in den Städten – dort sollen 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung leben – auch in Zukunft noch Luft zum Atmen bleibt.

null

Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten im Jahr 2015 die Agenda 2030. Ihr Herzstück ist ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs). Unsere Welt soll sich in einen Ort verwandeln, an dem Menschen ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig in Frieden miteinander leben können.

Auf KfW Stories veröffentlicht am 19. November 2018, aktualisiert am 3. Dezember 2020.