Zwei Personen laufen an Seilen gesichert eine Hochhauswand hinunter
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"Das Unerwartete erwarten"

KfW-Risikovorstand Stefan Peiß und die ehemalige Stuntfrau Miriam Höller über die Risiken im Beruf und im Leben – und über Klimarisiken, die neue Herausforderung für das Risikomanagement.

Dr. Stefan Peiß

Risiken sind seit der Promotion sein Thema: Stefan Peiß verantwortete das Risikocontrolling der Bayerischen Landesbank, bevor er 2009 zur KfW kam. Seit 2016 ist er Risikovorstand der KfW.

Frau Höller, Herr Peiß, Sie haben soeben ein Houserunning absolviert, sind vom Dach eines Frankfurter Hochhauses die Außenwand 100 Meter heruntergelaufen. Wie war das für Sie?

STEFAN PEISS: Sehr aufregend. Insbesondere dieses Rauskippen, wenn man aus der Senkrechten in die Waagerechte geht, mit dem Blick nach unten, ist ein besonderer Moment. Hängt man dann in der Wand, ist es ganz okay. Es ist im Grunde gelebtes Risikomanagement, weil alles sicher organisiert ist. Ich hatte ein gutes Gefühl.

MIRIAM HÖLLER: Es hat mich in meine alte Welt zurückgebracht. Es war so schön, das Adrenalin wieder zu spüren. Es kribbelt überall, ich bin jetzt richtig wach!

Eine Frau spricht und macht erklärende Handgesten
Miriam Höller

Deutschlands bekannteste Stuntfrau musste im Jahr 2016 nach einem Unfall ihre Stunt-Karriere beenden. Heute arbeitet sie als Moderatorin und Speakerin für Unternehmen.

Frau Höller, Sie haben zehn Jahre als Stuntfrau gearbeitet. Wie kamen Sie zu diesem Beruf?

HÖLLER: Ich habe bereits als Kind davon geträumt, fliegen zu können und außergewöhnliche Kräfte zu haben. Später habe ich zunächst eine klassische Ballettausbildung gemacht. Es war dann allerdings schnell absehbar, dass ich für Ballett körperlich zu groß werde. Mit 15 Jahren habe ich im Movie Park Germany eine Stuntshow angesehen, die mich so fasziniert hat, dass ich mich dort beworben habe. Das war genau das, was ich machen wollte! Meine Eltern haben mich unterstützt – aber ich musste dennoch warten, bis ich 18 war. Ab da war ich in meinem Element.

Herr Peiß, wann wussten Sie, dass Sie in Ihrem Element sind?

PEISS: Ich habe mit 20 Jahren eine Banklehre angefangen. Mein Ziel war, später in der Kundenbetreuung zu arbeiten. Aber dann habe ich erst einmal Betriebswirtschaft in München studiert. Meine Promotionsarbeit über die Risiken bei Immobilienfinanzierung führte mich zurück in die Bank. An der Bayerischen Landesbank wurde gerade eine neue Einheit geschaffen, in der viel ausprobiert und praxisbezogen gearbeitet wurde. Dort lernte ich die Vielzahl der Bankenrisiken kennen, fortan waren Risiken mein Hauptthema. Zur KfW kam ich 2009 als Bereichsleiter für Risikomanagement und -controlling. Später hat die KfW die Entscheidung getroffen, sich – wie eine normale Geschäftsbank – der Finanzaufsicht zu unterstellen. Als dies dann ab 2016 umgesetzt wurde, wurde ich in den Vorstand berufen.

Was fasziniert Sie am Thema Risiko?

PEISS: Es ist vielschichtig und abwechslungsreich. Als Bank müssen wir mit ganz unterschiedlichen Risiken umgehen: Kreditrisiken, Marktrisiken inklusive Zins- und Wechselkursänderungen sowie operationellen Risiken. Dazu kommen Liquiditäts- und reputative Risiken oder auch allgemeine Geschäftsrisiken, die zum Beispiel bei geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entstehen. Um mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufzuräumen: Risikomanagement heißt nicht, keine Risiken einzugehen – sondern sie stattdessen beherrschbar zu machen. Dafür müssen wir sie kennen und quantifizieren.

HÖLLER: So ist es auch bei den Stunts. Nur dass es bei Stuntleuten immer um Risiken für die Gesundheit oder sogar um unser Leben geht. Dieses Risiko kann ich nur minimieren, wenn ich mich selbst gut kenne und wenn ich mich auf mein Team verlassen kann. Die Risikokalkulation beginnt mit der Frage: Wie geht es mir körperlich und mental, was kann ich momentan wirklich leisten? 95 Prozent der Stuntarbeit sind Vorbereitung. Das Restrisiko ist wirklich minimal.

Mann im Anzug und Frau in Freizeitkleidung stehen lächelnd auf einem Hochhausdach
Frankfurter Skyline

Miriam Höller und Stefan Peiß kurz vor dem Abwärtslauf auf dem Dach des Leonardo-Hotels in Frankfurt-Sachsenhausen. Das Sicherheitsgeschirr ist schon angelegt.

Was war das Gefährlichste, das Sie bis jetzt gemacht haben?

HÖLLER: Risiko ist relativ. Ich habe Feuerflügel entwickelt, die ich auf den Schultern tragen kann: ein Stahlkonstrukt, das ungefähr 25 Kilogramm wiegt und die Form von Flügeln mit einer Spannweite von drei Metern hat. Das Stahlgerüst ist mit Stoff umwickelt und mit einer Brennflüssigkeit getränkt. Ein beeindruckender Stunt, der für mich gut zu kontrollieren ist. Bei einer Stuntshow sollte ich mit den Feuerflügeln open air auf dem Laufsteg vor einem sehr großen Publikum laufen. Das war einer meiner schwierigsten Stunts, weil Faktoren wie beispielsweise der Wind dazukamen. Der Wind hat die Flügel immer wieder aus der Achse gedreht und die Flammen unvorhersehbar schlagen lassen.

Herr Peiß, Wind ist ein gutes Stichwort. Wir haben im vergangenen Sommer viele scheinbar unkontrollierbare Extremwetterereignisse erlebt: die Flutkatastrophe in Deutschland, die Waldbrände in der Türkei, die extreme Hitze in Kanada. Welche Rolle spielen Klimarisiken für Banken?

PEISS: Klimarisiken können in physische Risiken und transitorische Risiken unterteilt werden. Transitorische Risiken sind regulatorische Eingriffe des Staates wie beispielsweise die Erhebung einer CO2-Steuer. Zu den physischen Risiken zählen, wie jetzt gerade erlebt, sturmbedingte Überschwemmungen. Da sich diese Risiken unmittelbar auf die Bonität der Unternehmen auswirken, entstehen hieraus ebenfalls Risiken für Banken, die diese entsprechend quantifizieren und managen müssen.

Eine Frau hängt lachend an einem Seil gesichert vor dem Stadtpanorama Frankfurts
Hoch über Frankfurt

Miriam Höller fliegt, nur von ihrem Sicherheitsgeschirr gehalten, vor dem Hotel-Turm. Im Hintergrund ist der neue "Henninger Turm" zu sehen.

Können Sie an einem Beispiel veranschaulichen, wie das in der Praxis funktioniert?

PEISS: Wenn wir Kredite vergeben, bewerten wir bei den einzelnen Geschäftsmodellen auch, wie anfällig sie für Klimarisiken sind. Wenn wir eine bauliche Maßnahme am Meer finanzieren, wird berücksichtigt, dass der Kredit eventuell nicht mehr zurückgezahlt werden kann, wenn der Meeresspiegel steigt und das Objekt wirtschaftlich nicht mehr nutzbar ist. Oder dass ein Stahlerzeuger, der extrem viel Strom benötigt und durch die CO2-Bepreisung für den Strom viel mehr zahlen muss als ursprünglich geplant, möglicherweise nicht mehr rentabel ist. Wir bauen bei der Darlehensvergabe diese Effekte in eine betriebswirtschaftliche Analyse ein, und das sehr breitflächig: in unsere Rankingsysteme, Kreditvergabeprozesse, Limitsysteme. Unsere Aufgabe ist es, Klimarisiken kalkulierbar zu machen – dies stellt zurzeit noch eine große Herausforderung dar.

Warum?

PEISS: Es gibt zu viele Unbekannte. Daher müssen wir mit Szenarien arbeiten. Zum einen wissen wir nicht genau, um wie viel Grad sich die Erde tatsächlich erwärmen wird. Und dann haben wir mit einem sehr langen Zeithorizont zu tun: In der Regel haben Risikomanagementsysteme Risiken im Blick, die in ein bis zwei Jahren Realität werden können. Beim Klimarisiko dagegen können es 20 oder 30 Jahre werden. Und dann gibt es etwa bei Extremwetterereignissen das Unerwartete, das wir erwarten müssen – wie Frau Höller es formuliert hat.

Zwei Personen laufen gesichert an einer Hauswand herunter und lächeln
Abwärts

Miriam Höller und Stefan Peiß kurz nach dem Start des House-runnings. Das Adrenalin fließt. Nun geht es 100 Meter steil nach unten. Im Hintergrund sind der neue "Henninger Turm" und die Zentrale der EZB (re.) zu erkennen.

In Ihrer Karriere ist das Unerwartete 2016 eingetreten, Frau Höller…

HÖLLER: ... ja, richtig. Für ein Modemagazin wurde ich unter einem Helikopter hängend und von da aus abspringend fotografiert. Zu der Zeit gab es in meinem Privatleben Unruhe, was sich auch auf meine körperliche und mentale Verfassung auswirkte. Trotzdem war ich überzeugt, aus der Routine heraus diese Aufgabe bewältigen zu können. Dem Kunden waren die Bilder nicht spektakulär genug, deshalb pushte ich mich immer weiter ans Limit. Das war fatal. Ich stürzte bei einem Absprung und brach mir dabei beide Füße – den linken Fuß zertrümmerte ich mir sogar.

Sie können nach Ihrem Unfall Ihren Beruf nicht mehr ausüben. Eine Zeit lang hat es sogar so ausgesehen, als würden Sie nicht mehr laufen können. Und dann ist Ihr Lebenspartner tödlich verunglückt, der österreichische Kunstflugweltmeister Hannes Arch. Wie haben Sie es nach diesen Schicksalsschlägen geschafft, sich zurück ins Leben zu kämpfen? Warum?

HÖLLER: Das ist alles innerhalb von sechs Wochen passiert. Ich saß im Rollstuhl, mein Lebenspartner war verstorben. Ich bin von Österreich zurück nach Deutschland gezogen und hatte alles verloren, wofür ich so viele Jahre hart gearbeitet hatte und was mich ausmachte. Wir definieren uns gern über unsere Berufe oder andere Personen. Nun war ich aber gezwungen, mich mit der ganz essenziellen Frage auseinanderzusetzen, wer ich bin, wenn die ganze Welt um mich herum zusammenbricht. Heute bin ich überzeugt: Wenn man die Antwort auf diese Frage gefunden hat, kann man jede Krise bewältigen. Dafür brauchte ich aber viel Zeit. Ich habe mich mühsam immer wieder an die Miriam erinnert, die ich im Kern bin: das Mädchen vom Land, das mutig, willensstark und wissbegierig ist – und von da aus begann ich mich neu zu erfinden.

Heute stehen Sie auf der Bühne und sprechen anderen Mut zu, sozusagen als Resilienzberaterin.

HÖLLER: Ich sehe mich eher als Abenteurerin, die das Leben wirklich erlebt. Die durch Erlebnisse ein Stückchen weiterkommt zu ihrer Wahrheit, ihren Werten und ihrer Persönlichkeit. Wir sind selbst dafür verantwortlich, welchen Sinn wir den Krisen und Veränderungen zuschreiben. Nach meinem Unfall brauchte ich professionelle Hilfe. In einer Selbsthilfegruppe für junge Frauen, die ihre Männer verloren hatten, fielen mir zwei Frauen auf. Die eine saß mit ihrem Baby auf dem Arm und sagte: „Ich komme heute zum letzten Mal hierher. Ich habe einen neuen Mann kennengelernt und ein Kind bekommen. Das Leben geht weiter.“ Und die andere Frau hat sie furchtbar beschimpft, weil sie ihrem verstorbenen Lebenspartner in den Rücken fiel. Da habe ich mir gesagt: Miriam, du kannst in fünf Jahren diese Frau sein – oder die andere. Ich wollte lieber die lebensbejahende sein.

Eine Frau und ein Mann stehen lächelnd vor einer Wand für ein Portrait
Gipfeltreffen

KfW-Risikovorstand Stefan Peiß und Ex-Stuntfrau Miriam Höller sind erst gemeinsam an einer Hochhauswand heruntergelaufen. Anschließend haben sie über Risiken im Beruf und im Leben debattiert.

Wie sind Sie dann Speakerin geworden?

HÖLLER: Irgendwann hatte ich eine Anfrage von einer Firma, die gerade an einem wichtigen Punkt ihrer Entwicklung stand. Dort habe ich einfach meine Lebensgeschichte erzählt. Und schloss dann meine Rede mit: „Das Leben wirft so viele Fragen auf und ich bin selbst gerade dabei, Antworten zu finden. Aber vielleicht ist genau das unsere Aufgabe.“ Heute haben meine Vorträge reflektierte und klare Botschaften, meine Motivation ist jedoch immer noch die gleiche: Wenn nur ein Mensch im Publikum ist, den ich ermutigen kann, nicht aufzugeben und Herausforderungen für sich zu nutzen, dann habe ich mein Ziel erreicht.

Herr Peiß, das Thema Resilienz begleitet auch die KfW. Unter anderem finanziert die KfW Maßnahmen, die die sogenannte Klimaresilienz steigern.

PEISS: Der Klimawandel ist im Gange, das können wir nicht leugnen. Daher ist der Aufbau der Klimaresilienz essenziell – also unserer Fähigkeit, uns von den Auswirkungen schnell zu erholen und ihnen vorzubeugen. Etwa die Hälfte unserer Finanzierungen weltweit haben einen Klimabezug. Wir helfen Unternehmen, Institutionen und Privatpersonen, in erneuerbare Energien und nachhaltige Mobilität zu investieren, Produktionsprozesse anzupassen, Gebäude zu dämmen und damit Energie und CO2 zu sparen. Wir fördern auch konkrete Maßnahmen, die zum Schutz vor Überschwemmungen beitragen, sowohl in Deutschland als auch in den Partnerländern der finanziellen Zusammenarbeit. Schließlich unterstützen wir eine Vielzahl von innovativen Versicherungsinstrumenten, die die Klimaresilienz steigern, etwa die Versicherung gegen die Dürreschäden in Afrika.

Was macht Sie zuversichtlich, dass die KfW es schafft, die Klimarisiken beherrschen zu können?

PEISS: Frau Höller hat über ihre Werte gesprochen. Hier möchte ich anknüpfen: Wir sind eine Klimabank und als solche intrinsisch motiviert, Klimarisiken zu adressieren. So haben wir bereits 2006, als eine der ersten Finanzinstitutionen, die Principles for Responsible Investments der Vereinten Nationen unterschrieben. Richtig Fahrt aufgenommen hat das Thema in der KfW dann im Jahr 2017. Schritt für Schritt sind wir zur Nachhaltigkeitsbank aufgestiegen. 2020 konnte die KfW dann schon, als ein Resultat aus dem Prozess, einen ersten Klimarisikostresstest durchführen und hat damit Pionierarbeit geleistet. Aber auch auf der Marktseite hat sich einiges getan. So ordnen wir beispielsweise als erste Bank unser gesamtes Portfolio den Nachhaltigkeitszielen der UN zu. Wir bauen also sowohl auf der Marktseite als auch im Risikomanagement sukzessive die Berücksichtigung von Klimarisiken aus.

Frau Höller, was würden Sie uns abschließend mit auf den Weg geben wollen?

HÖLLER: Ich denke, das Wichtigste, worum es beim Klimawandel – und übrigens grundsätzlich im Leben – geht: Was haben wir nicht getan, was wir später bereuen werden? Ich bin überzeugt, dass es besser ist, aktiv auszuprobieren, zu scheitern und daraus zu lernen, als nur abzuwarten und zu beobachten. Denn das haben wir lange genug getan. Wir brauchen mehr Pioniere mit klaren Strategien – und ein gemeinschaftliches Denken und Handeln für eine positive Veränderung und eine schöne Zukunft.

Veröffentlicht auf KfW Stories am: 3. Dezember 2021