Marsch der Gleichheit Kiew
Gesellschaftlicher Zusammenhalt

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„Mein Job und mein Leben“

Wer in der Ukraine nicht heterosexuell lebt, wird oft angefeindet. Damit ihr Land toleranter wird, organisiert Ruslana Panukhnyk den Marsch der Gleichheit. Der German Marshall Fund, mitfinanziert von der KfW, unterstützt sie. Unser Autor war in Kiew dabei – und erlebte Wut und Mut.

Ruslana Panukhnyk

Ruslana Panukhnyk nach der Parade in Kiew. Sie überlegt, den Staffelstab an die jüngere Generation weiterzugeben.

Ruslana scheint keine Angst zu haben. Sollte sie doch Angst haben, verbirgt sie sie perfekt. Und das ist gut so. Wenige Meter entfernt haben sich entlang der Wolodymyrska-Straße Menschen mit bösem Blick und langen schwarzen Stoffbahnen aufgestellt: „Sodomie“, steht darauf, „ist der Weg zur Hölle“.

Ruslana sieht die Stoffbahnen nicht und die Leute, die sie halten. Sie blickt nach vorne, Richtung Schewschtschenko-Boulevard, auf der breiten Stirn unter ihrer umgedrehten Baseballmütze wölben sich zwei Sorgenfalten. „Dort ist eine radikalere Gruppe, darum hat die Polizei die Straße gesperrt“, erklärt sie. Auf dem Boulevard steht stumm eine schwarze, behelmte Mauer aus Einsatzpolizisten. Dahinter rumort ein Megafon, wedeln Dutzende Fahnen, schwarzweiß, schwarzrot, drohend. Die Fahnen der Nationalisten, die den Kiewer Marsch der Gleichheit verhindern wollen. „Wie es aussieht, müssen wir die Route ändern.“ Ruslana klingt gelassen. Ein Zug berittener Polizisten nähert sich im Schritttempo, Pferde wie Reiter machen neutrale Gesichter.

Neun Uhr morgens, es ist schon heiß, aber Ruslanas schwarzes T-Shirt noch nicht verschwitzt. Über der angelsächsischen Aufschrift „KYIVPRIDE“ prangt ein regenbogenbuntes Lautsprechersymbol. Der Tag des Marsches der Gleichheit ist Ruslanas wichtigster im Jahr und jedes Jahr aufs Neue der wichtigste Tag in ihrem Leben. Ruslana Panukhnyk ist 31 Jahre alt, lesbisch und LGBT-Aktivistin (LGBT: Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender), offiziell Direktorin des Kiewer Pride-Festivals, weniger offiziell eine junge Ukrainerin, die darum kämpft, ihr Land zu verändern.

Den Teilnehmern des Gleichheitsmarsches drohen Angriffe

Es ist die siebte Pride, die siebte Festwoche der sexuellen Minderheiten, in der ukrainischen Hauptstadt. 2012 musste der abschließende Gleichheitsmarsch aus Sicherheitsgründen abgesagt werden, bei allen anderen war Ruslana dabei.

Und wieder herrscht Nervenkrieg, drohen tätliche Angriffe. Mehrere Homophobe knackten am Vortag ein Bioklo, füllten den Inhalt in Kondome, um die LGBT-Demo damit zu bewerfen, die vom Gestank alarmierte Polizei nahm sie fest. Jetzt stürzt sich ein grimmiger Einzelkämpfer auf das Banner „Freiheit ist unsere Tradition“, das Ruslana und weitere Frontleute tragen, will es an sich reißen. Handgemenge. Nach dem zweiten Versuch wird er abgeführt.

Weiter hinten bekommt kaum jemand etwas mit davon. Dragqueens stöckeln tapfer auf Sektglasabsätzen übers Kopfsteinpflaster, der Fahrer des Lastwagens, auf dessen Plattform sie auftreten sollten, hat aus Angst das Weite gesucht. Westliche Diplomaten, Delegationen aus Kanada, den USA, aus Kiews Partnerstadt München folgen. Und Tausende fröhlicher, junger Ukrainer. „Eine Stunde Freiheit“, wird auch Ruslana später sagen und lächeln.

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Wir treffen sie am nächsten Tag, ein paar Ecken weiter, im Café Charms, benannt nach dem sowjetischen Dichter Daniil Charms. Er verhungerte unter Stalin in einem Leningrader Gefängnis, auch er war auf seine Art anders – entsprach also nicht der Norm. Ruslana erzählt vom Schulunterricht im westukrainischen Ternopil, davon, wie die Lehrer sich um den Aufklärungsunterricht drückten. Gleichgeschlechtlichkeit war sowieso tabu. Sie probierte Sex zuerst mit Jungs. „Aber mit 19 begann ich nachzudenken, wer ich bin.“ Mit 21 habe sie es begriffen. „Witzig“, sie grinst, „wie viele der Aktivisten hatte ich mein öffentliches Coming-out bei meiner ersten Pride 2013.“ Damals gab sie mehrere TV-Interviews, „die haben alle gesehen, auch meine Eltern“.

Seitdem teilt die studierte Politologin ihre Biografie mit der Pride. 2014 fiel das LGBT-Festival wegen des Krieges im Donbass aus, Ruslana betreute damals Flüchtlingsfamilien. 2015 war sie dann für die Sicherheit zuständig, eine undankbare Aufgabe. Die Polizei wollte die Kundgebung wieder abblasen, genehmigte erst am Vortag eine Route auf einer abgelegenen, aber unsicheren Uferstraße. „Wir konnten die Strecke nicht einmal vorher besichtigen.“ Rechte Rowdys griffen an, warfen mit Nägeln gespickte Feuerwerkskörper auf die 350 Teilnehmer und die Polizisten, 15 Menschen wurden verletzt. „Ein Fiasko. Es endete auf einer Fahrbahn zwischen Wohnblocks, wo eine Menschenmenge hinter der anderen herlief und verprügelte, wen sie erwischen konnte.“ Gewalt, vor allem gegen Schwule und Transsexuelle, ist in der Ukraine noch immer Alltag. Oft suchten sich Homophobe ihre Opfer auf Hornet und Grindr, den einschlägigen Datingportalen im Netz, schlügen sie zusammen und raubten sie aus, erzählt Ruslana. „Leute werden sogar wegen ihrer farbigen Frisur verprügelt.“ Und zum diesjährigen Gleichheitsmarsch postete der Vizebürgermeister der Provinzhauptstadt Sumi ein Foto mit einer Kolonne von KZ-Häftlingen, darunter: „Die Stunde wird kommen, da werden die sogenannten Prides genauso aussehen“.

Ruslana Panukhnyk
„Der Marsch macht uns sichtbar, er macht uns zur Wirklichkeit.“

Ruslana Panukhnyk, LGBT-Aktivistin

Für Ruslana ist die Pride ein Lebenswerk

Ruslana sitzt in einem Jeanshemd hinter einem Stück Käsekuchen, ihr Blick ist noch immer etwas müde. Aber sie hört aufmerksam zu, antwortet ausführlich und lebhaft, man merkt, wie wichtig ihr das Gespräch über ihre Pride ist. „Sie ist mein Job und mein Leben.“ Sie lächelt verhalten. Der Job zermürbe, erst vor eineinhalb Wochen wollte die Polizei die vereinbarte Route abkürzen. „Wir mussten eine Kampagne starten, Botschafter mobilisieren und den Innenminister erreichen, um die Zuständigen umzustimmen.“

Mehrere Monate lang gerate die Vorbereitung zum 24-Stunden-Job, einer arbeite für vier, die letzten Wochen lebten alle gemeinsam in einer aus Sicherheitsgründen konspirativen Wohnung. Die Pride finanziere sich zu zehn Prozent aus Crowdfunding-Geldern, zu fünf Prozent aus Sachspenden, 85 Prozent brächten ausländische Stiftungen auf. So auch der US-amerikanische German Marshall Fund, der unter anderem Schlüsselpersonen aus der Zivilgesellschaft wie Panukhnyk fördert, um Demokratie und Freiheitsrechte zu stärken. Deutschland zahlt über die KfW in die Stiftung ein. Trotz der großen Unterstützung müssen Ruslana und ihre Mitorganisatoren in die eigene Tasche greifen, etwa um Partys zu organisieren. Privatleben? Ruslana denkt nur ganz kurz nach. „Gibt es keines mehr.“ Ihre frühere Partnerin sei keine Aktivistin gewesen. „Es war schwer, ihr zu erklären, warum ich wegen der Arbeit mitten in der Nacht wegmuss. Oder nicht mit zum Abendessen bei Freunden kann.“ Der Job fresse einen auf, vor dem Marsch schwören sich alle: Nie mehr Pride! „Aber am Morgen danach planen wir schon wieder fürs nächste Jahr.“

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Die KfW Entwicklungsbank setzt sich für die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ein.

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Für Ruslana ist der Gleichheitsmarsch eine Frage der Existenz. „Laut Umfragen kennen nur fünf Prozent der Ukrainer Schwule oder Lesben persönlich. Der Marsch aber macht uns sichtbar, macht uns zur Wirklichkeit. Wenn wir weiter im Schrank sitzen, tun auch alle anderen so, als gäbe es uns und unsere Probleme nicht.“ LGBT-Beziehungen sind in der Ukraine vogelfrei. Nur Ehepaare oder Einzelpersonen dürfen Kinder adoptieren. Stirbt aber der „legale“ LGBT-Elternteil, kann der andere nicht verhindern, dass ihr Kind im Waisenhaus landet. Und Ruslana erzählt vom Tod eines Transgenders, den seine Partnerin nicht beerdigen durfte, das machten die Eltern, sie begruben ihn in Frauenkleidern.

Neuer Teilnehmerrekord auf dem CSD in Kiew 2019

Manchmal habe sie Angst, nicht mehr zu erleben, dass sich wirklich etwas bessere. „Aber ich glaube daran. In der Ukraine passiert alles sehr überraschend.“ Sie sagt, ihr Vertrag laufe 2020 aus, sie werde wohl nicht verlängern. Sie hoffe auf neue, jüngere Leute. „Wir Älteren haben die Attacken auf die Pride 2012 und 2015 erlebt, wir sind nicht so offen für neue Ideen, die Jüngeren haben weniger Angst.“

In diesem Jahr endet der Marsch der Gleichheit nach einer Stunde. Danach: Briefing für die Presse. 8.000 Teilnehmer, neuer Rekord, hundertmal mehr als beim ersten Marsch vor sieben Jahren. Und zum ersten Mal haben auch 30 Mann in der Uniform der ukrainischen Armee mitgemacht. Aber es ist noch nicht vorbei, Ruslanas Blick bleibt gespannt. Neben ihr ruft jemand per Lautsprecher auf, die LGBT-Utensilien zu verstecken, bevor man in die U-Bahn steigt, aus Sicherheitsgründen. „Gehen Sie nicht zu Fuß!“, rät jemand anderes.

Wir gehen trotzdem hinab zum Kreschtschatik, Kiews heute sehr leerer Hauptstraße. Vier Mädchen, kaum 20 Jahre alt, sitzen auf der Granitbrüstung einer gesperrten Fußgängerunterführung. Sie tragen rosa- und regenbogenfarbene T-Shirts und Stirnbänder und plaudern. Ob sie Angst haben? Sie antworten mit Gelächter. Es ist wohl Ruslana und ihren Mitstreiterinnen zu danken, dass ihre kleinen Schwestern der Zukunft freudiger entgegensehen als sie selbst.

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Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten im Jahr 2015 die Agenda 2030. Ihr Herzstück ist ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs). Unsere Welt soll sich in einen Ort verwandeln, an dem Menschen ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig in Frieden miteinander leben können.

Auf KfW Stories veröffentlicht am 8. Oktober 2019