Demonstranten in Hongkong mit leuchtenden Handys
Innovation

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Wie eine zweite Sonne

Internet, autonome Fahrzeuge, Roboter, ein neues Weltgefühl: Wie die Digitalisierung unser Leben verändert. Ein Essay von Erna Lackner.

Simulation eines vernetzten Fahrzeuges
Neue Freunde

„Simon“ ist ein Roboter, der an der US-Hochschule Georgia Tech entwickelt wurde. Seine Spezialität: Er lernt von den Menschen, mit denen er zusammenlebt. So können auch IT-Laien ihren Robotern neue Dinge beibringen.

Vor einem Aquarium steht ein kleiner Junge und will die Fische hinter dem Glas mit einem Fingerwisch von Daumen und Zeigefinger auf der Scheibe vergrößern – eine Szene aus dem Bilderbuch der Digitalisierung. Was wird der Bub alles als normale Wirklichkeit empfinden, wenn er groß ist? Wie werden die digitalen Technologien, die seine Beziehung zur Welt von klein auf prägten, sein Bewusstsein beeinflusst haben? Was ist für die Digital Natives naturgegeben? Wie real ist Virtuelles?

Die digitale Revolution hat die Welt auf den Kopf gestellt, nicht nur technisch und ökonomisch, sie wirkt auch kulturell – mental, seelisch, intellektuell – umstürzend. Ob sich jetzt tatsächlich die größte Transformation unserer bisherigen Menschheitsgeschichte abspielt, wird man in hundert Jahren besser beurteilen können. Wir stecken fasziniert mittendrin, können aber schon heute sagen: Wir werden in interessanten Zeiten gelebt haben. Google zählt täglich 5,6 Milliarden Suchanfragen, 65.000 in jeder Sekunde. Mehr als eine Milliarde Menschen sind täglich auf Facebook aktiv. Mehr als jeder Vierte hat heute ein Handy, es gibt 2,1 Milliarden Smartphones. Junge Leute greifen jeden Tag 160-mal zum Smartphone, sind damit geradezu verwachsen.

Das Internet kam wie ein Naturereignis – und ist wohl eine Naturkraft. Sich dagegenzustellen, hieße, gegen sich selbst zu sein, gegen sein gesellschaftliches Wesen und allen Geist. Dass eine digitale Sprache und Kommunikationstechnik erfunden oder gefunden wurde, liegt in der Natur des Menschen.

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Leuchtende Datenströme

Diese Simulation auf der Messe CeBIT 2017 zeigt, an welchen Stellen Fahrzeuge bereits vernetzt sind.

Die jüngste Schubkraft kam mit dem Geniestreich des Steve Jobs, die menschliche Hand wieder ins hochtechnologische Spiel zu bringen: Mit dem Fingerwisch auf Touchscreens wurden Smartphones sinnlich und intuitiv zu bedienen.

Wie eine zweite Sonne leuchtet uns das Internet heute ein. Wisch – und du bist verbunden mit der Welt. Dieses Weltgefühl wirst du nie mehr vergessen, eine solche Verbindung, diesen magischen Realismus willst du immer haben. Noch leben wir in einer Übergangsphase, Ältere bremsen: Don’t live online! Go analog! Aber auch sie beglückwünschen sich insgeheim: dieses Neuland noch erleben zu dürfen. Die Welt ist wie frisch – war doch schon komplett entdeckt und abgeklappert bis zu jedem Antarktiszipfel. Jetzt aber: Aufbruchsstimmung, Neuvermessung der Welt, die sich über die alte gestülpt hat, Eroberungen sind wieder möglich. Start up!

Zu unser aller Glück hatte der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee 1991 am CERN in Genf, keine ökonomischen Interessen. Das Netz ward offen erschaffen und da für alle. Der englische Physiker hat uns eine kommunikative Freiheit geschenkt, wie es sie zuvor nie gab. Dementsprechend potenzieren sich gesellschaftliche wie wirtschaftliche Auswirkungen. Im exponentiellen Wachstumswettlauf wurden die Schnellsten die bleibenden Sieger an den Schaltstellen der Infrastruktur: Google, Facebook, YouTube, Apple, Amazon, PayPal und andere Megaplayer. An die Realität des Virtuellen gewöhnen wir uns in multimedialen Zeiten, auch an Virtual Reality, vorläufig noch mit Brille.

Tim Berners-Lee spricht auf einer Bühne
Der Erfinder

Tim Berners-Lee hat als Wissenschaftler vor 26 Jahren die Grundstrukturen entwickelt, auf denen noch heute das Internet funktioniert.

Vielleicht erleben wir in diesen Pionierjahren ja noch mal, um amerikanisch zu bleiben, den Wilden Westen. Wie die ersten Siedler liegen herrlich unerschlossene Landmassen vor uns, natürlich mitsamt Risiken und Nebenwirkungen. Das Neuland ist wie unendlich und noch nicht verstellt von Bürokratien, von Barrieren. Aber die Zeichen mehren sich, dass der grandiose globale Freiraum nicht ewig sein wird. Reglements, Warnschilder, Sperren, Selektionen, Einhegungen, Gängelungen werden verstärkt werden, aus Geschäftsraison, als Transparenzgebot, im Namen der sauberen Demokratie, wegen der Trolle, um sich von algorithmischen Bots abzugrenzen.

Cookies säumen unsere Wege. Online-Targeting wie im E-Commerce wird inzwischen auch in der Politik angewandt, bei den US-Wahlen wurden aus Kundentypen eben Wählertypen. Apps mit Bequemlichkeits- und Glücksversprechen verleiten uns zu Offenherzigkeiten, die wir uns im analogen, „echten“ Leben nie erlauben würden. Echt ist nun aber auch digitales Profiling. Das alte Sprichwort „Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch alles an die Sonnen“ gilt auch in der neuen Netzwelt, gerade wegen der fein gesponnenen Aufzeichnungsmaschinerie Internet.

Die dritte Welle der Digitalisierung rollt an

Wie alle Umbrüche funkelt der digitale Wandel im Wechselspiel von Licht und Schatten. Versandhändler verdrängen lokale Geschäfte. Andersherum erreichen kleine Produzenten online große Märkte.

Steve Jobs spricht auf einer Bühne
Der Visionär

Steve Jobs hat mit dem konsequenten Wechsel von der Tastatur zum Touchscreen den Erfolg aller Smartphones beflügelt.

Klassische Medien werden als Überbringer von Neuigkeiten nicht mehr benötigt. News verbreiten sich in Digitalgeschwindigkeit über soziale Medien, und nicht nur Donald Trump twittert top-down, viele Politiker kommunizieren gern unvermittelt. Da die digitalen Plattformen jedem offenstehen, der Modebloggerin ebenso wie Institutionen oder Firmen, ist die Medienbranche nicht geschrumpft, sondern enorm und – bravo! – vielfältig gewachsen.

Das ökonomische Interesse der digitalen Innovatoren verlagert sich aktuell mit allen Kräften auf das „Internet der Dinge“: die Vernetzung und Steuerung intelligenter Maschinen für unseren Alltag. „Die dritte Welle“ der Digitalisierung, nach der ersten mit dem WWW und der zweiten Welle durch Suchmaschinen und Social Media, wird laut dem Internetpionier und AOL-Gründer Steve Case alle möglichen Industrien dynamisieren. Wearable Technologies für Patienten und Telemedizin, selbstfahrende Autos, Smart Homes. Der Kühlschrank meldet, wenn das Bier zu Ende geht, die Heizung fährt während der fahrerlosen Heimfahrt hoch, das Auto parkt sich selbst ein. Kommt man zur Haustür herein, begrüßt einen die zur Stimmung passende Lieblingsmusik. Der Boden ist picobello gesaugt – wenn ein Roboter jetzt noch den restlichen Haushalt in Schuss halten könnte!

In Japan, das ins Technische geradezu verliebt ist, werden Roboter als Putzkräfte und Gepäckträger auf Flughäfen und in Hotels eingesetzt, auch als ansprechbare Helfer in Altersheimen. Hierzulande fragt man zwar schon einfühlsam „Darf man Roboter mit dem Hammer schlagen?“, und Juristen der EU denken über e-Personen und deren Rechte und Pflichten nach, aber die humanoiden Maschinen sind Europäern nicht ganz geheuer. Freilich, noch jede nützliche Technik hat stets auch breite Käuferschichten begeistert, wenn sie wirklich gut ist. Und beim Internet der Dinge ist das Silicon Valley schon kongenial mit deutscher Ingenieurskunst und Maschinenbautechnik verlinkt. Viele Geräte mit intelligenter Steuerungselektronik stammen aus Forschungsabteilungen deutscher Industrien, die sich intensiv mit Deep Learning beschäftigen: Maschinen mit künstlicher Intelligenz lernen nicht nur, passend zur Situation und Aufgabe zu agieren, sondern auch, ihre Betriebssoftware kognitiv weiterzuschreiben.

Quelle
Cover CHANCEN Erfolg in der digitalen Welt

Dieser Artikel ist erschienen in CHANCEN Frühjahr/Sommer 2017 „Erfolg in der digitalen Welt“.

Zur Ausgabe

Ausgerechnet im Stammland des Automobils schlägt auch autonomen Autos noch etliche Skepsis entgegen. BMW, Daimler, VW und Elon Musk mit Tesla müssen neben der technischen noch einige psychologische Arbeit leisten gegen die Angst vor dem Kontrollverlust. Selbst wenn der Autofahrer im Stau längst nicht mehr der freie Mensch auf freier Strecke ist, das Auto mit dem Steuerrad ist ihm ein Symbol der Freiheit. Im Cockpit ist er ein König.

Der digitale Alleskönner Smartphone hat ihm Spielräume ohne Ende eröffnet, aber das digitalisierte Auto will ihm die Freude am Schalten und Walten nehmen? Ja, Autofahren macht immer noch Spaß! Nun, Assistenzsysteme sind schon heute in vielen Fahrzeugen – der Übergang zum selbstfahrenden Auto wird ein stufenweiser sein. Und wenn Autofahrer schließlich den Flow beim Gleiten im digital synchronisierten Feierabendverkehr mal erfahren haben, werden sie stante pede dafür sein. Dieser Flow, Komfort, Lebensqualität, andere überraschende Zugewinne werden die Verbündeten auch dieser digitalen Umstellung sein. Überhaupt, hätte das Automobil von seinem Namen her nicht von Anfang an selbst fahren müssen?!

Die Autorin

Erna Lackner ist freie Autorin in Wien, schreibt vor allem für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und hat ein Buch über „Die Generationen Y und Z“ herausgegeben.

Es sind spannende Zeiten, in denen wir leben. Genießen wir sie und gestalten wir mit, was und wo es nur geht. Die wunderbaren Werkzeuge, technische wie menschliche, haben wir. Digitus, lateinisch, heißt Finger. Die digitale Zukunft liegt in unserer Hand.

Auf KfW Stories veröffentlicht am: Freitag, 16. Juni 2017